Herdecke. Die Stadt Herdecke könnte angesichts leerer Kassen ihr Kanalnetz verkaufen. Der Ruhrverband zeigt großes Interesse an einer Übernahme.

Gebannt und gespannt nehmen die Zuhörer im Herdecker Ratssaal die Ausführungen von Prof. Norbert Jardin zur Kenntnis. Der Vorstandsvertreter (Technik und Flussgebietsmanagement) des Ruhrverbands erläutert Politikern und Gästen, wieso sein Arbeitgeber als nicht-gewinnorientierte Körperschaft des öffentlichen Rechts das Herdecker Kanalnetz übernehmen kann. Wie berichtet, wollen die Parteien mit der Stadtverwaltung angesichts leerer Kassen prüfen, ob die Zuständigkeit eines Tages wechseln könnte. Das ist noch nicht entschieden, aber möglich.

Zumal der Ingenieur seinen Vortrag derart überzeugend hält, dass manch einer im Ratssaal denkt: Wo sollen wir unterschreiben? So weit ist es längst noch nicht, wobei die Fraktionen am Ende beschließen, nach einer Aufstellung über die Vermögensdaten des städtischen Kanalnetzes die Übertragsoption weiter im Blick zu halten. Denkbar ist weiterhin eine Zusammenarbeit mit Dritten inklusive Ruhrverband.

Dessen technischer Vorstand wirbt offen für die Übernahme, über die der Rat entscheidet. „Die Abwasserbeseitigung ist seit mehr als 100 Jahren eine zentrale Aufgabe für den 1913 gegründeten Ruhrverband, entsprechend kompetent sind wir aufgestellt. In diesem Kerngeschäft wollen wir wachsen und unsere Maschinen effizient nutzen“, sagt Dr. Jardin. Zahlen für Herdecke könne er nicht nennen, dafür verweist er auf bestehende Kanal-Verträge mit Meschede, Schmallenberg, Schalksmühle und Hattingen. Die Stadt aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis (hier prüft auch Ennepetal die Option) erhält dafür 110 Millionen Euro zum Abbau von Schulden. „Hattingen hat ein deutlich größeres Kanalnetz als wir“, sagt Herdeckes Bürgermeisterin Katja Strauss-Köster. „Unser Betrag dürfte – ganz grob geschätzt – in etwa bei der Hälfte liegen.“

Gespräche mit weiteren Interessierten

Laut Jardin führe der Ruhrverband derzeit (vertrauliche) Gespräche mit zehn Kommunen zum Kanalnetz. „Wir haben keinen finanziellen Vorteil durch eine Übernahme, da wir ja beispielsweise keine Dividende auszahlen und zudem ja auch gesetzliche Vorgaben umsetzen müssen.“ Einer Stadt entstünden bei diesem genossenschaftlichen Optionsmodell auch keine steuerlichen Nachteile. Im Gegensatz zu Privatanbietern sei der Ruhrverband auch insolvent-gesichert, zudem können die Kommunen über die Verbandsversammlung Einfluss nehmen. „Unsere Motivation? Wir kümmern uns schon über die Kläranlage in Hagen um Herdeckes Abwasser und haben die hiesigen Regenüberlaufbecken als Speicher im Blick. Somit sind wir gewissermaßen davon beseelt, ganzheitlich zuständig zu sein.“

Unterschiedliche Modelle in Betracht ziehen

Laut Ratsbeschluss soll die weitere Prüfung auch ergeben, welche Auswirkungen unterschiedliche Modelle für Bürger hätten.

Ins Blickfeld könnten etwa auch ein interkommunaler Zusammenschluss mit Nachbarkommunen, die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums am Kanalnetz oder ähnliches kommen.

Für den Prüfauftrag gab es keine Gegenstimme.

Der Ruhrverbands-Vorstand führt acht Argumente auf, wieso alle von der neuen Kanal-Zuständigkeit profitieren können. Es handele sich um keine Privatisierung, Bürger („Die profitieren von den Synergien und dem geringeren Betriebsaufwand“) müssten nicht mit gewinn- und steuerinduzierten Preiserhöhungen rechnen. Der Verband übernähme Betriebs-, Haftungs- und Zinsänderungsrisiken, zugleich könne er seine Kompetenzen erweitern.

Rat legt Gebühren fest

Jardin sieht auch keine steuerlichen, vergabe- oder gebührenrechtlichen Risiken. Rechte des Rats etwa bei Investitionen im Kanalnetz oder zur Gebührenfestlegung blieben vollumfänglich bestehen, es gebe einen nachvollziehbaren Ausgleichsbetrag. Herdecke erhalte also Mittel zur Schuldenrückführung oder für Investitionen. „Wir haben ein Gutachten zu kommunalen Risiken erstellen lassen und können heute sagen, dass es solche aus unserer Sicht nicht gibt. Obendreinkönnen wir auch beim Zinsanteil einen höheren Ansatz nehmen als eine Stadt.“ Der Ruhrverband mit mehr als 1000 Mitarbeitern könne ein hohes Entwässerungsniveau auch in den nächsten Jahren gewährleisten. Der Hochwasserschutz bleibe – sofern keine gesonderte Kooperation vereinbart werde – eine kommunale Aufgabe.

Sowohl die Bürgermeisterin als auch Jan Schaberick (SPD) wollen von Jardin noch wissen, ob die Stadt beim Kanalnetz-Verkauf nicht ihr Tafelsilber verscherbelt. „Wir planen verlässlich und transparent, könnten auch für das Kanalnetz zuständige Mitarbeiter Herdeckes übernehmen“, erwidert der Ruhrverbands-Vorstand. „Wir sind am Gemeinwohl orientiert und wirtschaften wie eine Genossenschaft, suchen auch kein neues Geschäftsmodell. Möglich ist, dass eine Kommune ihr Kanalnetz später wieder von uns zurückkauft.“

Vor- und Nachteile abwägen

Sowohl die Bürgermeisterin als auch Andreas Disselnkötter verweisen darauf, dass der Städte- und Gemeindebund manches anders als der Ruhrverband sehe. „Dabei geht es ja auch um den Schutz der Kommunen: Was ist beispielsweise mit den abgewanderten Mitarbeitern, wenn die Stadt nach 20 Jahren die Rückkaufoption wahrnehmen will?“, fragt das Ratsmitglied der Grünen mit kritischem Unterton. Darauf entgegnet Norbert Jardin, dass eine Kommune dann in der Tat Know-how zurückgewinnen müsse. „Wir haben kein Interesse an einer Rückabwicklungsoption.“

Heinz Rohleder von der CDU fragt nach den Besitzverhältnissen. Laut Vorstand Jardin gehören dem Ruhrverband alle neuen, der Stadt die alten Kanäle inklusive Abschreibungen. „Es gibt beispielsweise für Neubaugebiete dazu keine Festschreibung, die Eigentumsfragen müsste man klären.“

Stadt als juristische Eigentümerin

Grundsätzlich sei der Ruhrverband nach einer Übernahme des Netzes wirtschaftlicher Kanal-Eigentümer („Unseren Aufwand stellen wir in Rechnung, müssen diesen gegebenenfalls kompensieren und wollen dennoch Rücklagen bilden“), die Stadt bleibe juristisch Eigentümerin.

Die erwirtschafte in dem Bereich laut Katja Strauss-Köster Gewinne. „Der Kanal-Betrieb ist für uns nicht defizitär“, sagt die Bürgermeisterin und mahnt eine wohl überlegte Entscheidung an, an der auch Bürger beteiligt werden sollten. „Hattingen hat bis zum Beschluss zwei Jahre gebraucht. Daher sollten wir Vor- und Nachteile sorgfältig bzw. neutral abwägen sowie juristische Feinheiten beachten. Der Ruhrverband ist nicht der einzige mögliche Partner.“