Herdecke. . Andreas Disselnkötter hat über Menschen geforscht, die Juden beim Überleben geholfen haben. In Herdecke fehlt ihm ein Teil der Aufarbeitung.

Die Großeltern von Andreas Disselnkötter sind 1996 vom Staat Israel mit der Yad-Vashem-Medaille ausgezeichnet worden. Sie hatten in den Jahren ‘43/’44 im hessischen Züschen eine junge Jüdin aufgenommen und ihr als Hausangestellte eine neue Identität verschafft. Es war das erste Mal, dass er genauer von dieser Art Ehrung für Menschen erfuhr, die anderen Menschen das Überleben des Holocausts möglich gemacht haben. Bald darauf hatte Disselnkötter, der heute als Lehrer arbeitet und den Grünen im Herdecker Rat vorsteht, über zehn Jahre selbst Anteil an den Auszeichnungen.

Wie ist es zu Ihrer Tätigkeit für die zentrale Gedenkstätte Yad Vashem in Israel gekommen?

Andreas Disselnkötter: Nach der Feierstunde für meine Großeltern, die in Kassel stattgefunden hat, wollte ich wissen, wie es in Jerusalem aussieht, wo diese Gedenk- und Forschungsstätte steht. Dort habe ich vor allem mit Mitarbeitern in der Forschungsabteilung gesprochen, die sich mit allen Facetten des Nationalsozialismus beschäftigt. Der Leiter der Abteilung „Gerechte unter den Völkern“ hat mich dann gefragt, ob ich nicht Gutachten für Yad Vashem schreiben wolle. Sie sind laut israelischem Gesetz nötig für die Anerkennung.

Wie muss man sich das vorstellen?

Da kommt eine Postkarte an in Yad Vashem von irgendeinem Menschen aus irgendeinem Ort in Deutschland. Dann stellt sich die Frage: Was ist dort geschehen? Für die Israelis war es nicht so leicht, in deutschen oder österreichischen Archiven zu forschen oder mit Zeitzeugen zu reden. Ich bin für eine umfassende Recherche an diese Orte gefahren, um herauszufinden, was wahr und was falsch ist, was wahrscheinlich ist und was möglich gewesen sein kann. Ich habe dann Gutachten geschrieben von manchmal über 100 Seiten, auf die sich die Jury gestützt hat.

War das ein Fulltime-Job?

Nein. Das lief neben der Uni. Die anfallenden Kosten wurden erstattet, Honorar gab es aber nicht. Das funktionierte, weil ich an der Uni bereits einen Job hatte und mich selbst finanzieren konnte. Ich habe dann auch begonnen, für jüdische Zeitungen zu schreiben.

Welche Eindrücke haben Sie von dieser Arbeit mitgenommen?

Ich habe viel gelernt über deutsche Geschichte und Erinnerungskultur. Gerade in den frühen 90-er Jahren gab es ein absolutes Desinteresse an diesem Thema. Wenn so eine Ehrung ausgesprochen wurde, kam nicht mal jemand von der Zeitung. Innerhalb von zehn Jahren hat sich das massiv gewandelt. Überrascht hat mich, dass die Aktivitäten der Deutschen für Juden zunächst nicht als Widerstand angesehen worden sind. Heute spricht man von „Rettungswiderstand“. Allein in Deutschland sind über 600 Yad-Vashem-Ehrungen ausgesprochen worden, weltweit sind es über 23.000.

Geht einem das nach?

Zunächst sollte ich das ja auf einer sachlich wissenschaftlichen Ebene angehen. Aber ich hatte mit sehr vielen Überlebenden zu tun. Vor allem in Witten und Bochum habe ich Überlebende der Shoah, die in deutschen Konzentrationslagern waren, durch Schulen begleitet. Dabei war es natürlich belastend, diese Geschichten zu erfahren. Aber gerade bei den „Gerechten unter den Völkern“ haben die Geschichten ja eine andere Wendung. Im jüdischen heißt es: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“. Auch wenn das sehr pathetische ist, hat mich das sehr berührt.

Zur Person: Andreas Disselnkötter

Andreas Disselnkötter ist 51 Jahre alt.

Er hat eine journalistische und eine wissenschaftliche Ausbildung und arbeitet als Quereinsteiger als Lehrer.

Studiert hat er Philosophie, Deutsch und Politik. Schon im Studium war er für die Grünen tätig, eingetreten ist er aber erst in Herdecke.

Aktuell steht er der Fraktion der Grünen im Herdecker Rat vor.

Wie denken Sie über das Gedenken in Herdecke?

Ein Freund von mir in Freiburg hat ein Buch geschrieben über einen der Schlimmsten im NS-Regime, der die Technik des Vergasens ausprobiert hat in Litauen und der bis zum Erscheinen dieser Biografie ein hochangesehener Bürger war. Um die Brücke zu Herdecke zu schlagen: Hier haben wir viel erfahren über die Opfer, und es gibt eine große Bereitschaft, sich auf die Biografien der verfolgten Juden einzulassen. Man liest aber nichts über die Täter und auch nichts über die Zuschauer. Man hört nichts über die Familien, und man ist nicht bereit, sich damit auseinander zu setzen. Das meine ich nicht anklagend. Ich finde nur: Das gehört dazu. Es gibt durchaus Menschen, die darüber sprechen wollen. In einem Fall war es dann allerdings so, dass die Familie äußerst aggressiv darauf reagiert hat. Das scheint mir typisch zu sein für deutsche Klein- und Mittelstädte.

Haben Sie zum 27. Januar, dem Gedenktag der Befreiung des KZs in Auschwitz, ein besonders Gefühl?

Ich finde gut, dass der damalige Bundespräsident Roman Herzog darauf aufmerksam gemacht hat. Meine Erfahrung ist, dass diese rituellen Gedenktage aber nicht den erhofften Effekt haben. Wichtiger fände ich, sich Gedanken darüber zu machen, wie diese Themen im Unterricht nicht zum ablehnenden Stöhnen führen. Dafür müssten auch die Geschichten über „Die Gerechten der Völker“ mit aufgenommen werden.

Nutzen Ihnen die Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen?

Selbstverständlich. Viele der Flüchtlinge in Herdecke, die ich kenne, haben eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Kriegsflüchtlinge im Nationalsozialismus. Das ist für mich eine vergleichbare Geschichte in einer anderen Zeit.

Wie gehen Sie mit dem Antisemitismus mancher Flüchtlinge um?

Wir haben auch vertriebene Palästinenser hier mit antiisraelischem Weltbild. Ich glaube aber schon, dass die sich, wenn sie mit Israelis reden würden, als Teil einer gemeinsamen Familie aus dem Nahen Osten begreifen würden.