Herdecke/Wetter. . Kidan Zerm vom Verein Aufbau Eritrea spricht über den Friedensvertrag und die Pläne für 2019.

Fluchtursachen bekämpfen? Kidan Zerm weiß, wie das geht. Die Vorsitzende des Vereins Aufbau Eritrea blickt zu Beginn des neuen Jahres mit ganz viel Hoffnung in die Zukunft ihres Herkunftslandes, aus dem sie selbst vor über 40 Jahren mit ihren Kindern nach Deutschland floh. Denn nach Jahrzehnten der Feindschaft zwischen Äthiopien und Eritrea führte Äthiopiens neuer Premier Abiy Ahmed eine Zeitenwende herbei: Mitte letzten Jahres unterzeichneten die beiden ostafrikanischen Länder einen Friedensvertrag. Was nicht bedeutet, dass Eritreas Bevölkerung keine Not mehr leidet. Deswegen wird Kidan Zerm, die Anfang der 1990er Jahre in Herdecke eine neue Heimat fand, neue Projekte anpacken und bereits begonnene fortsetzen – unterstützt von Mitstreitern und großzügigen Spendern aus Herdecke, Wetter und dem gesamten Ruhrgebiet. Wie diese Hilfe zur Selbsthilfe aussieht, darüber sprach die Lokalredaktion mit der Wahl-Herdeckerin.

Sind in der Bevölkerung bereits Auswirkungen des Friedensvertrages zu spüren?

Für die Menschen ist es befreiend, dass die Spannungen weg sind. Sie können jetzt erst einmal aufatmen. Zuerst gab es wieder Flugverbindungen zwischen den Ländern, dann wurden die Grenzen geöffnet. Auch Handelsbeziehungen werden wieder aufgenommen. Grundnahrungsmittel wie Hirse sind billiger geworden, so dass das Ernährungsproblem etwas kleiner geworden ist. Aber nach einem halben Jahr ist nicht der ganze Hunger weg.

Sie helfen mit ihrem Verein auf vielen Ebenen. Was ist für dieses Jahr geplant?

Wir werden weiterhin viele Familien mit Ziegen, Schafen und Hühnern für die Landwirtschaft unterstützen, werden Frauen Webstühle oder Nähmaschinen kaufen, damit sie zuhause arbeiten können, wo sie zugleich auch auf ihre Kinder aufpassen können. Außerdem wollen wir zwei Schulen mit Büchern und Schuluniformen für fast 600 Kinder ausstatten. Eine Schule soll Laptops bekommen, und wir wollen Computer-Fortbildungen für die Lehrer finanzieren. Für die Schüler ist der Umgang mit Laptop und Handy wichtig, damit sie keine Angst mehr vor den Geräten haben. Internet gibt es allerdings nur in den Hauptstädten. In den Gegenden, wo wir helfen, gibt es kein Internet. Aber trotzdem können Schüler den Umgang mit den Geräten üben. Wir müssen die junge Generation mit Bildung auffangen. Die Kinder und Jugendlichen müssen begreifen können, was in der Welt geschieht.

Verein leistet Hilfe zur Selbsthilfe

Aufbau Eritrea ist ein gemeinnütziger Verein, der 2001 in Herdecke gegründet wurde.

Aktuell zählt der Verein 66 Mitglieder sowie zahlreiche Paten, die ganz oder teilweise für den Unterhalt eines Kindes im Waisenhaus aufkommen oder auch anderweitig helfen.

Zur Zeit leben dort im Waisenhaus 18 Kinder und zwei Betreuerinnen. Die Kinder haben entweder keine Eltern oder Eltern, die ihnen keine Schulbildung ermöglichen können.

Der Unterhalt für ein Kind kostet im Jahr 1100 Euro.

Sie wollen auch Babykrippen in Krankenhäusern aufbauen. Warum ist das so wichtig?

Wenn Frauen in Eritrea Kinder kriegen, arbeiten sie nach der Geburt mit ihrem Kind auf dem Rücken weiter. Denn Mutterschutz oder Geld gibt es für sie nicht. Aber keine Krankenschwestern trägt ihr Kind auf dem Rücken und bereitet dann eine Operation vor. Deswegen sind wir dabei, eine Kinderkrippe im größten Krankenhaus in der Hauptstadt Asmara aufzubauen und wollen das auch in zwei weiteren Kliniken machen. Die Räume werden gestellt, aber wir müssen sie einrichten mit Küchen, Bettchen, Spielsachen und dann auch die Erzieherinnen finanzieren. Damit helfen wir den Frauen und den Kindern; denn Bildung fängt im Kindergarten an.

Seit 1995 haben Sie und ihr Verein im Waisenhaus Faith-Mission-School in Dekemhare Kinder untergebracht, die keine Familie haben oder traumatisiert sind. Sie besuchen dort die Schule bis zur 11. Klasse und bekommen damit eine solide Grundlage für ihr weiteres Leben. . .

Ja, alle der ersten 44 Kinder, die wir damals dort aufgenommen haben, haben ein Studium oder eine Ausbildung abgeschlossen. Sie sind Rechtsanwälte, Ingenieure, Lehrer, Journalisten und Erzieher geworden. Mohamed Abi zum Beispiel ist als 14-Jähriger auf eine Miene getreten und hat einen Arm und ein Bein verloren. Ärzte des Hammer Forums hatten ihn damals zur Behandlung nach Deutschland geholt; hier bekam er dann auch seine Prothesen. Ich habe ihn nach seiner Rückkehr nach Eritrea begleitet. Inzwischen ist er 34 Jahre alt und Jurist. Als er für seinen Berufseinstieg ein Laptop und einen Drucker brauchte, haben wir ihm noch einmal geholfen und die Geräte besorgt. Übrigens haben sich 99 Prozent der über 1000 Kinder, die wir in all den Jahren aufgenommen haben, eine Existenz aufgebaut. Das zeigt uns, dass wir es richtig gemacht haben. Wir haben den jungen Menschen eine Perspektive gegeben, sie begleitet und sie auch belohnt, wenn sie etwas geschafft haben. Am Ende der Schulzeit bekamen und bekommen sie noch ein Paket mit Bettwäsche und Anziehsachen von uns; und dann lassen wir sie los. Wenn wir jetzt nach Eritrea fliegen, dann gehen wir bei vielen nur noch mal auf einen Kaffee und ein Gespräch vorbei.

Und warum denken Sie, dass Bildung Fluchtursachen bekämpft?

Wenn man den Kindern Hoffnung gibt, wenn sie Bleistift, eine Uniform und einen finanziell gesicherten Weg vor sich haben, dann gehen sie mit Begeisterung und vor allem mit Würde zur Schule. Und ich sage ihnen immer: Ohne Bildung erwartet euch nichts. Wenn ihr Bildung habt, dann steigt ihr später als Ingenieur ins Flugzeug und könnt auch in Amerika arbeiten, statt als Analphabet in die Wüste zu gehen. Wer einen Beruf hat wie Mohamed, der übrigens auch schon in der Schweiz und in Uganda war, der muss sein Land nicht verlassen. Warum sollte er in der Schweiz bleiben, wenn er ein Zuhause hat, wo er auch gut leben kann?