Herdecke. . Abwechslung nach den Komödien: Das neue Stück im Theater am Stiftsplatz handelt von Sucht, Schwermut, Hass und Liebe – braucht’s noch mehr zum Leben?

  • Das Stiftsplatztheater in Herdecke hat sich viel vorgenommen
  • Kurz nach dem Tschechow-Abend war die nächste Premiere
  • „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ fordert das Publikum

Nach einigen leichteren Stücken in den vergangenen Monaten hat das Theater am Stiftsplatz nun etwas ganz anderes aufgefahren: einen buchstäblich schweren Klassiker. Nun feierte Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ Premiere, inszeniert von Rosi Reiß. Es war dunkel, morbid, und doch hier und da auch vorsichtig komisch.

Ein Stück für diese Zeit

Das Stück aus den 1950ern stellt einen Tag im Leben der amerikanischen Familie Tyron dar. Ulla Biermann ist in der weiblichen Hauptrolle zu sehen. An ihrer Seite spielen Karl Hartmann als Vater, von Beruf mittelmäßiger Schauspieler, Malte Dürr als älterer, alkoholabhängiger Bruder und Paul Schlenga als der jüngste Sohn Edward, der mit der Schwindsucht kämpft und mit dem sich Eugene O’Neill hauptsächlich identifizierte.

Es geht um zerplatzte Träume von einem besseren Leben, verlorene Hoffnung auf Wege aus der Sucht und Krankheit. Schuldzuweisungen prägen das Bild, Flucht aus der Realität und Selbstverantwortung. Mal ist die Stimmung himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt, mal lässt sie einen Blick auf die Abgründe der Einzelnen erhaschen. Ihre Beziehungen sind Material aus sprunghafter Hassliebe. Die Familie ist festgefahren in eingerostete, zerstörerische Muster, aus der sich niemand befreien kann.Die Geschichte passt in das Amerika vor dem ersten Weltkrieg: massive Veränderungen im Land, das vom Fortschritt eingeholt wird, der ebenso viele auf der Strecke lässt. Sie verfallen dem Morphium, Alkoholismus oder der Schwermut. Genau deswegen passt es auch in die heutige Zeit. Jeder Satz regt zum Nachdenken an.

Die kleine Bühne wurde gut genutzt, um das trostlose Sommerhaus der Familie Tyron darzustellen. Das Mobiliar ist einfach und in die Jahre gekommen, knarrt zum Beweis, wenn sich die Schauspieler schwerfällig seufzend darauf nieder lassen oder im Suff auf dem Sofa kollabieren. Regelmäßig stampft es von oben – das ist die geisternde Mutter im Rausch. Ulla Biermann spielt diese Rolle im spießigen, mottenzerfressenen Kleid und mit einem sich immer mehr lösenden Dutt ausgezeichnet. Haarsträhnen fallen ihr wild ins Gesicht, als sie im Laufe des Tages immer gedankenverlorener und verwirrter vor sich hin sinniert. Sie ist zerbrechlich und verloren, ganz im Gegensatz zu den hitzigen Gemütern von Jamie und Edmund (Malte Dürr und Paul Schlenga), die mit lauten Beleidigungen und Pöbelattacken buchstäblich Schwung in die Bude bringen.

Malte Dürr spielt den lauten Bruder überzeugend und mit vollem Körpereinsatz, während Paul Schlengas Rolle gerade durch die gekrümmten Hustenanfälle und das Zitieren seiner liebsten Dichter und Denker mit Blick in die weite Ferne lebendig wird. Hinzu kommt: Paul Schlenga ist das jüngste Mitglied des Ensembles. Dennoch steht seine Leistung der der anderen in keinster Weise nach. Karl Hartmann schafft es, blitzschnell und glaubhaft von gutmütigem Freund zu erbostem Feind zu wechseln.

Regisseurin Rosi Reiß gerührt

Für die wenigen Momente der Komik sorgt hauptsächlich Fenja Rothe als dreistes Hausmädchen. In der frustrierend gestörten Familie ist sie der einzige Charakter, der durchweg ohne Abgründe erscheint, so ist, wie sie stets vorgibt. Man atmet fast auf, wenn sie die Bühne betritt. Der Fokus liegt ganz auf dem Gesagten. Und das ist eindrucksvoll. Über zwei Stunden lang sprechen die Schauspieler nonstop – eine gigantische Menge an Text. Hinter fast jedem Wort verbirgt sich noch eine andere Dimension: ein Seitenhieb, eine Erinnerung, ein Traum.

Gerade im zweiten Teil scheint es jedoch lockerer zu laufen. Denn es spielen nicht mehr alle fünf gemeinsam und produzieren so Dissonanzen. Stattdessen stellen die einzelnen ihre Charakteren mehr vor.

Doch vieles wiederholt sich. Oft wird in zermürbenden Schleifen dieselbe Problematik immer wieder durchgekaut. Manchmal möchte man die Figuren bei den Schultern nehmen und schütteln.

Zum Schluss dankte die sichtlich gerührte und erleichterte Regisseurin Rosi Reiß, die sich mit dem Tschechow-Abend und Eugene O’Neill’s Werk gleich zwei Stücke parallel vorgenommen hatte, den Schauspielern für eine fast makellose Premiere.