Herdecke. . Vor 50 Jahren kamen die Maschinenräder bei Herdeckes größtem Arbeitgeber zum Stillstand. Zeitzeuge Günter Breuking war damals im Betriebsrat; er erinnert sich.

13 Namen stehen in dem Bericht vom April 1965 über die Betriebsratswahlen bei Habig. Einer der Mitglieder war Günter Breuking, damals 27 Jahre und der Jüngste in der Runde. Heute ist er der Einzige, der noch lebt und als Arbeitnehmervertreter von dem jähen Niedergang der Stoffdruckerei berichten kann. Ziemlich genau 50 Jahre ist es jetzt her, dass binnen weniger Monate die Maschinenräder bei Herdeckes größtem Arbeitgeber zum Stillstand kamen.

Hinter Klarsichtfolien hat Breuking die Entwicklung der Firma Habig aufbewahrt. Ein Bildnis zeigt Heinrich Habig, den Gründer des Unternehmens, der 1809 von Werne an der Lippe an die Ruhr kam. Sein Ziel: eine Blaufärberei errichten. Herdecke war ein guter Platz dafür. Die Bauern brachten ihr Korn zum Markt und selbstgesponnenes Leinen. Bei Heinrich Habig tauschten sie das Leinen gegen bedruckte Stoffe. Das Unternehmen wuchs. Sohn Theodor machte aus dem handwerklichen Betrieb eine gut ausgerüstete Fabrik. Und immer war die Firma Habig vorn, wenn es um technische Neuerungen ging.

1400 Beschäftigte

Reichlich vergilbt sind die Zeitungsausschnitte mittlerweile, die Breuking über seinen Ausbildungsbetrieb und ersten Arbeitgeber zusammengetragen hat. Aber schon die Größe der Berichte zeigt, wie wichtig das Unternehmen war. „Hut ab vor den Herren Habig“, schreibt die Westfalenpost über einen Bericht zur innerbetrieblichen Feier zum 150. Geburtstag, und die Textilzeitung feiert mit einem langen Text und einer Luftaufnahme vom Ruhrufer mit der „Front der Werksanlagen“ die „Fünf Generationen Stoffdrucker“ in Herdecke. Rund 1400 Beschäftigte zählt der Betrieb im Jubiläumsjahr 1959. Bei Günter Breukings Wahl zum Betriebsrat sind es zwar noch mehr als 1000 Mitarbeiter. Aber die Tendenz ist fallend.

Es war ein quälender Niedergang, den der gelernte Textilfärber im Laufe des Jahres 1966 mit erlebte. Schon im Januar wusste er als Betriebsratsmitglied Bescheid: Eine neue Allianz mit der Stoffdruckerei Göcke & Sohn in Hohenlimburg war geschmiedet. Aus wirtschaftlichen Gründen sollte die Produktion in Herdecke nach einem Stufenplan dicht gemacht werden. Die Geschäftsleitung hatte zwar ihre Pflicht erfüllt und den Betriebsrat in Kenntnis gesetzt. Zugleich hatte sie den Arbeitnehmervertreter aber „zur Verschwiegenheit verdonnert“, wie sich Breuking an die schwierigen Wochen erinnert, bis das etappenweise Aus für den Standort offiziell war.

„Gute Maschinen gingen zu Göcke“, sagt Breuking, „und zum Teil auch die Beschäftigen“. So auch Günter Breuking. Die Tonlage der Verlautbarungen änderte sich dann allerdings schnell. Im Februar wurde noch gemeldet, dass Dank Habig in Hohenlimburg die größte deutsche Stoffdruckgruppe entstehen würde. Durch diese betriebliche Konzentration solle „konsequent die durch die Übernahme eingeleitete Schaffung einer auch gegenüber ausländischer Konkurrenz leistungsfähigen Stoffdruckindustrie fortgesetzt werden.“ Das Bollwerk gegen den Importdruck aus Billigpreisländern kam zu spät, wie im August 1966 klar wurde: Die Gläubiger hielten nicht mehr still, nach den Ferien wurde die Produktion in Herdecke gar nicht mehr aufgenommen. Im September war Schluss bei Habig. Das damit verbundene „wirtschaftliche Erdbeben“ verspürte auch die Redaktion der Westfälischen Rundschau in der Nachbarstadt Hagen.

Über Jahrzehnte hatte Habig den Herdeckern Arbeit und ein Stück Identität gegeben und dazu die Steuerkasse der Stadt gefüllt. Jetzt musste auch die örtliche Politik mit ansehen, wie die Internationalisierung der Wirtschaft einen Riesen von früher in die Knie zwang. Bürgermeister Hugo Knauer sprach die Hoffnung aus, „dass keine sozialen Härten entstehen und dass im bisherigen Werksgelände eine neue Produktion angesiedelt würde.“ Tatsächlich ging es auf dem Habig-Gelände weiter, und es war sogar ein Unternehmen aus einer anderen Linie der Familie, das zunächst mit einer Hand voll Mitarbeitern am Ufer der Ruhr an den Start ging. Auch Günter Breuking und seine Frau heuerten schnell beim Landmaschinenhersteller Westfalia Separator an.

Am Unternehmensstandort Oelde schulte er um zum Dreher, ein paar Jahre später wurde er auf dem zweiten Bildungsweg Refafachmann. Ab 1974 hat Günter Breuking dann Lagerverwaltung in Herdecke gemacht. „Es ging mir hinterher besser, ich habe bei Westfalia mehr verdient als bei Habig“, sagt Breuking im Rückblick, und auch seine Frau kam auf einen höheren Stundenlohn. Selbst wenn es für seine Familie gut gelaufen ist, so hat es ihn doch geärgert, dass der Niedergang von Habig vor allem den Arbeitnehmern die großen Nachteile gebracht hat. Viele wurden entlassen, andere mussten weit weg ziehen, um einen Job zu finden.

Teil der Stadtgeschichte

Mittlerweile ist Westfalia Separator an den GEA-Konzern verkauft worden, und auch das ist schon wieder Geschichte: Der Name Westfalia hat zwar zur Zählung der einzelnen Bauabschnitte noch gedient, ansonsten hat Einkaufen und Wohnen das Produzieren am Ufer der Ruhr ersetzt. Die Zeiten der Stoffdruckerei Habig und des Landmaschinenherstellers Westfalia sind ein wichtiger Teil der Stadtgeschichte, sagt ihr Chronist Günter Breuking. Er will nicht zulassen, dass das einfach vergessen wird. Daher sein dicker Ordner mit den vielen Folien, daher die vergilbten Zeitungsbögen bis hinein ins Jahr 1996. Aber bei allem Bewahren: „Ein Nostalgiker bin ich nicht“, stellt Günter Breuking fest, „eher ein Realist. Ich muss es nehmen, wie es ist. Warum also trauern?“