Hagen. .
Es gibt zwei Sorten Menschen in dieser Stadt. Der einen gehen beim Thema Karneval die Nackenhaare hoch. Für sie ist das eine quietsch-bunte Zeit, in der gestandene Männer und Frauen zum Schunkel-August werden.
Für die anderen aber ist das hier mehr als das Tragen eines Gewands, mehr als Blödelei im Kostüm. Sondern Tradition. Pflege von Werten. Respekt für seine Mitmenschen. Und Liebe zur Heimat. Die Erben des im vergangenen Jahr weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewordenen türkischen Prinzen Erdinc sind Herzmenschen. Vom Scheitel bis zur Sohle. Sie leben in diesen Tagen ihren größten Traum zu Ende. Auf dem Drei-Türme-Weg mit Narrenkappe und Pipi in den Augen. Liebes Prinzenpaar, lasst uns reden.
Zwei echte Herzmenschen
Für mich ist das kein Schock-Experiment. Ich werde wohl niemals Karnevalsprinz von Hagen sein, aber es steckt genug Jeck in mir, um zu verstehen, was in Monika Zwehr und Holger Kunz-Runge vorgehen muss. Ich bin der Enkel eines ehemaligen Vorhaller Bauern und der Freund einer ehemaligen Prinzenpagin. „Na, das ist mir doch schon mal sympathisch“, sagt Holger I. Keine Karnevalsmuffelei. Keine Vorurteile. Wir schunkeln nicht durch den Wald. Aber wir haben eine Gesprächsbasis.
Herzmenschen zeichnen zwei Dinge aus. Erstens: Sie können Gefühle in wenigen einfachen Worten äußern und dann auf den Punkt bringen. Eine Kostprobe? „Wenn wir in einen Saal einmarschieren und die Menschen stehen auf, dann kriegen wir eine Gänsehaut vom Allerfeinsten, dann hast du Pipi in den Augen.“
Zweitens: So gut Herzmenschen Gefühle ausdrücken können, so schlecht können sie sie verbergen. Noch eine Kostprobe? „Oh, hören Sie mir auf, davon wollen wir hier mal gar nicht reden. Wenn ich mir vorstelle, dass nächsten Dienstag alles vorbei sein soll, könnte ich einfach nur heulen.“
Loßröcke durch und durch
Zum Teil einer guten Gesprächsbasis gehört es, dass Holger und Monika den Reporter zu Beginn des Spaziergangs zu einem von ihnen machen. „Für Sie haben wir eine Loßrockkappe mitgebracht. Aufsetzen“, sagt der Prinz. Nicht weil sie die einzigen Verkleideten im Wald sein wollen, sondern weil das kleine Käppchen den Bogen zu ihrer eigenen Geschichte schlägt. Sie sind Loßröcke durch und durch. Vor acht Jahren waren sie das Oberloßrockpaar. Auf dem Sommerfest, zwischen kühlem Pils und schwitzendem Ochsen sind sie sich einst näher gekommen. Die selbstständige Frisörin und der Bandstahlschneider. Zwei, die so lebendig daherkommen, dass man sich nicht vorstellen kann, dass dieses Paar sich jemals länger als zwei Minuten angeschwiegen hat.
Ein älterer Spaziergänger kommt uns entgegen. Erst grinst er, dann guckt er verstört. Dann grinst er wieder, dann wieder verstört. Dann traut er sich: „Ich kenne euch. Findet der Karneval jetzt auch schon im Wald statt?“ Ja, tut er. Und als der Spaziergänger längst vorbeigeschlichen ist, ist er immer noch Thema.
„Daran sieht man doch, warum der Karneval für unsere Stadt so wichtig ist“, sagt der Prinz. Diese Stadt, die gefühlt so viele schlechte Schlagzeilen schreibe, die zwischen Identifikation und des Bürgers Abgeneigtheit wandele, die so grau, aber auch so schön ist, brauche diese fünfte Jahreszeit. „Wir alle. Die, die unter Druck stehen, die sich ärgern, die immer eine Rolle spielen müssen. Wir alle können einfach nur Mensch sein.“ Der Karneval als gesamtstädtisches Ventil für Hagener Lebenslust und Hagener Lebensfrust. Wohl dem, der Mensch genug ist, sich einfach mal fallen zu lassen.
Die vorangegangene Session warf viel Scheinwerferlicht auf die Volmestadt. Ein Türke machte hier erstmals den Prinzen. Noch dazu einer, der gar nicht aus Hagen kam. Zeitungen, das Radio, Fernsehsender, sie alle liefen sich die Hacken ab, um ein bisschen Erdinc zeigen zu können. Man könnte meinen, dass man sich als Nachfolger einfach viel zu normal fühlen müsste.
„Normal?“, fragt die Prinzessin und schüttelt mit dem Kopf. „So besonders der Moment war, als Erdinc zum Prinzen wurde, so besonders war es auch bei uns. Denn als wir im Kegelcasino damals auf die Bühne getreten sind, wussten 100 Prozent der Anwesenden schon wer wir sind. Für viele war klar: Ja, die beiden mit ihrer langen Karnevalstradition sind die Richtigen für Hagen.“ Der eine war im Vorjahr ein Überraschungsbonbon. Die anderen beiden nun ein Gefühlsvolltreffer. Nichts von beidem ist bemerkenswerter als das andere.
Holger und Monika träumen. Nun tragen sie die Gewänder des Hagener Prinzenpaares. Nun sind sie es endlich. „Ich habe mir das immer gewünscht“, sagt Holger. Jedes Mal, wenn er die Zeilen seines Lieblingslieds „Der schmucke Prinz“ hörte, träumte er den Traum intensiver. „Jetzt bin ich es und es überwältigt uns beide absolut.“ Weil man spüre, welche Werte und welche Idee der Karneval verbreiten wolle. Zusammenhalt, Frohsinn, Optimismus und die Flucht aus dem Alltag.
Als die beiden dieser Tage in das Haus Wohlbehagen in Eckesey einmarschierten, übermannten sie die Emotionen. 80-jährige, 90-jährige Menschen rackerten sich aus ihren Stühlen hoch, versuchten an ihren Rollatoren Haltung anzunehmen. „Für viele ältere Menschen in dieser Stadt ist es eine Ehre, dem Prinzenpaar zu begegnen. Ein 99-jähriger Mann bat uns, ihm den Wunsch zu erfüllen, 100 Jahre alt zu werden“, sagt der Prinz und fasst sich mit beiden Händen gerührt auf die Brust. Der Terminstress war plötzlich dahin. „Wir sind eine halbe Stunde länger geblieben und ins Gespräch gekommen.“
Längste Session seit langer Zeit
Diese Session musste ihre sein. Der Kalender hat es so gewollt. Denn: Diese Session gehört kalendarisch zu den längsten der vergangenen Jahre. „Für uns musste das aus beruflichen Gründen so sein“, sagt Holger, „aber auch, weil Monika immer gesagt hat, dass wir nicht zu alt sein wollen, wenn es endlich passiert.“
Wir reden über das liebe Geld und ob man eigentlich einen Geldspeicher haben muss, um mal Prinzenpaar werden zu können. „Dass man da auch ein bisschen Geld in die Hand nehmen muss, sollte klar sein“, sagt der Prinz, „aber es kommt auch immer darauf an, worauf man Wert legt. Wir müssen uns zum Beispiel immer fragen, ob wir den Menschen, die uns seit 30 Jahren im Karneval treu begleiten, bei unserem Auftritt einen gewöhnlichen Blumenstrauß oder etwas schenken wollen, das von Herzen kommt.“
Ein bisschen ist es jetzt so, als wenn man für den Langstreckenläufer bei einer Weltmeisterschaft die letzte Runde einläutet. Schlussspurt. Auf ins Finale. Eines, das voller Sehnsucht und doch voller Traurigkeit ist. Sehnsucht nach den großen Momenten, die es liefert. Die Weiberfastnacht für die Prinzessin und das Heimspiel, wenn der Prinzenwagen beim Rosenmontagszug durch die Stadt rollt. Es sind Bilder, von denen sie immer geträumt haben. Und sie werden traurig sein. Weil jedes Winken, jedes Lachen, jedes Bützchen und jede Kamelle sie dem Ende der Session einen Augenblick näher bringt. „Das macht es so traurig“, sagt der Prinz. Und währenddessen hat sein Smartphone zum x-ten Mal eines dieser Düdeldü-Geräusche von sich gegeben. Man verlangt nach dem Prinzen.
Die vielen Wochen ihrer Regentschaft haben sie gesammelt. Für die Sternentreppe, den Kinderhospizdienst der Caritas am Köhlerweg. „Wir wollten keine Geschenke und vieles andere. Die Leute sollten uns lieber etwas für dieses Projekt geben“, sagt Prinzessin Monika. In ihrem Frisörladen in Wengern haben die Kunden Geld in eine Spardose geworfen. Und obwohl man in Wetter mit Karneval gemeinhin nicht viel am Hut hat, ist so etwas wie eine kleine Euphorie um das Paar entstanden.
„Wir müssen weiter. Wir haben einen Termin“, sagt Holger, „aber das hier, das war klasse. Das hat richtig Spaß gemacht. Macht weiter damit.“ Der Herzmensch hat gesprochen. „Sehen wir uns beim Zug?“ Ja, tun wir. Und wenn der Prinzenwagen vorbeirollt, werde ich wieder ein Stückchen mehr verstehen, was es für die Träger der blau-gelben Gewänder bedeutet, dort zu stehen. Sie werden winken. Ich auch. „Hören Sie auf, davon zu reden“, sagt Monika, „ich kriege Pipi in den Augen.“