Hagen. Der Hagener Kriegsverbrecherprozess gegen den früheren SS-Mann Siert B. wegen der Ermordung eines niederländischen Widerstandskämpfers ist eingestellt worden. In der seit der Tat vergangenen Zeit sei ein Beweisverlust eingetreten, begründete das Landgericht Hagen die Einstellung.

Damit hatte selbst der Verteidiger nicht gerechnet, und es kam so überraschend wie ein Paukenschlag: Um 13.09 Uhr verkündete das Hagener Schwurgericht im NS-Prozess sein Urteil – das Kriegsverbrecherverfahren gegen Siert B. (92) aus Breckerfeld wird eingestellt. Ein lautes Raunen ging durch den voll besetzen Saal, in dem sich Medienvertreter aus aller Welt eingefunden hatten.

„Ich werde versuchen, Ihnen die unerwartete Entscheidung transparent zu machen“, leitete Richterin Heike Hartmann-Garschagen die mündliche Begründung der Kammer ein, die genau 56 Minuten dauerte. Keine leichte oder gar angenehme Aufgabe, das war der erfahrenen Vorsitzenden deutlich anzumerken. Wohl auch deshalb, weil nicht wenige Anwesende im Raum die von Oberstaatsanwalt Andreas Brendel (Dortmund) beantragte lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes auch ganz sicher erwartet hatten. Stattdessen bleibt „het Beest“ (die Bestie), wie Siert B. in den niederländischen Medien genannt wird, jetzt unbestraft.

Angeklagter gab 1944 zwei Schüsse ab

Da war auf der einen Seite, wie das Gericht auch ausdrücklich hervorhob und würdigte, „die mutige Leistung des niederländischen Widerstandskämpfers Aldert Klaas Dijkema“, der bis zuletzt, ja, bis in den Tod, sich nicht verbiegen wollte und seinen Prinzipien eisern treu blieb. Und, auf der Gegenseite, der heute 92-Jährige Angeklagte, der in der Nacht zum 22. September 1944 zwei Schüsse den Widerstandskämpfer abgab – wie die Richter klar feststellten – von hinten und aus ein- bis eineinhalb Metern Entfernung.

Fluchtversuch vorgetäuscht

Das Opfer war zuvor auf einem Bauernhof im niederländischen Delfzijl (Nähe Groningen) festgenommen worden. Als Mitarbeiter der Grenz- und Sicherheitspolizei hatten Siert B. und sein damaliger Vorgesetzter August N. den Befehl, einen Fluchtversuch von Dijkema vorzutäuschen und ihn hinzurichten.

22 Prozesstage mit 14 Zeugen

„22 Prozesstage, 14 Zeugen sowie vier Gutachter – vom Historiker, über den Kardiologen bis zum Psychiater“, hat Gerichtssprecher Jan Schulte statistisch aufgelistet. Einmal waren die gesamten Prozessbeteiligten auch in Holland.

Verteidiger Hans-Peter Kniffka ist „sehr zufrieden“ mit dem Ausgang des Verfahrens. Und sein Mandant Siert B.? „Der hatte das Urteil akustisch leider nicht verstanden. Ich habe ihm das erfreuliche Ergebnis aber zugeflüstert.“

Sie verfrachteten den verhafteten Widerstandskämpfer deshalb nachts in ein Auto, fuhren mit ihm zu dem verlassenen Gelände einer Motorenfabrik und hielten dort an. Mit den Worten „Geh mal pissen!“ musste Aldert Klaas Dijkema aus dem Wagen steigen. Sekunden später fielen mehrere Schüsse.

„Wir wissen“, führte Richterin Hartmann-Garschagen aus, „dass der Angeklagte in der Tatnacht am Tatort war, und wir wissen auch, dass er geschossen hat.“

Siert B. habe, ebenso wie sein damaliger Vorgesetzter August N. (1985 verstorben) Schüsse abgegeben. „Beide, jeweils zwei“, so die Vorsitzende Richterin wörtlich. Deshalb sei der Angeklagte auch des Totschlags an Aldert Klaas Dijkema schuldig. Doch dafür könne Siert B. heute nicht mehr verurteilt werden, das Delikt sei 69 Jahre nach der Tat längst verjährt.

An Grenzen gestoßen

„Nicht verjährt wäre Mord“ so Richterin Hartmann-Garschagen, und alle gesetzlichen Merkmale, insbesondere die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers, habe die Kammer gründlich geprüft und sei dabei immer wieder an eine natürliche Grenze gestoßen: „Wir wissen es nicht.“ – „Wir hätten es gerne alles erfragt, doch die meisten Zeugen sind inzwischen leider tot.“

Das Gericht musste sich eingestehen: „Durch die lange Zeitspanne sind die Beweise verloren gegangen.“ Das habe sich zugunsten von Siert B. auswirken müssen.