Hagen / Siegen. Die südwestfälische Wirtschaft warnt davor, die Freizügigkeit in der EU in Frage zu stellen. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Siegen findet, dass die Debatte um Armutsmigranten in eine falsche Richtung laufe. Diese gefährde den Aufbau einer Willkommenskultur.

Eine Bedrohung? Durchaus. Aber für die südwestfälische Wirtschaft besteht sie nicht in der seit 1. Januar geltenden Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen, sondern in der aufgeregten Debatte über Armutsmigranten und Sozialschmarotzer.

„Die Diskussion läuft in völlig falschen Bahnen“, sagt Franz Josef Mockenhaupt, Hauptgeschäftsführer der IHK Siegen. „Wir müssen mehr gut ausgebildete junge Europäer anlocken.“ Ralf A. Hueß, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Arnsberg, betont: „Wir stehen im Brennpunkt des demografischen Wandels und freuen uns über jede Fachkraft, egal, wo sie herkommt.“ Und Hans-Peter Rapp-Frick, Hauptgeschäftsführer der SIHK zu Hagen, macht sich Sorgen, weil die gerade angelaufene Debatte über die Notwendigkeit einer neuen Willkommenskultur gefährdet werde: „Jetzt entsteht das Gegenteil. Das ist volkswirtschaftlich gefährlich.“

"Abqualifizierung ganzer Völker"

Rapp-Frick befürchtet, eine Einschränkung bei der Freizügigkeit werde andere Einschränkungen im Binnenmarkt nach sich ziehen - im Handel, bei Dienstleistungen und im Kapitalverkehr. Dies könne keinesfalls im deutschen Interesse sein. Außerdem sei „diese Abqualifizierung ganzer Völker auch unter menschlichem Gesichtspunkt sehr unschön“.

Er sieht nur positive Folgen: „Bulgarischen Pflegekräften, deren Lohn bislang zu großen Teilen von Agenturen abgeschöpft wurde, bleibt künftig mehr Geld.“ In Mangelberufen - Ärzte, Krankenschwestern, IT-Fachleute - seien Rumänen und Bulgaren schon heute tätig. „Und die Roma in Duisburg oder Dortmund, die Probleme verursachen, sind ja auch ohne Freizügigkeit schon da.“

Mit einer großen Zuwanderungswelle rechnet ohnehin niemand. „Derzeit sind im verarbeitenden Gewerbe sieben Prozent Ausländer beschäftigt“, sagt Mockenhaupt. „Das ist bedauerlich wenig.“ Er fände es wichtiger, darüber zu reden, wie man diejenigen Arbeitskräfte, die kämen, langfristig binden könne.

Deutschland öffnete sich zu spät

Die Kammern erinnern an die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen, die auch mit Befürchtungen verbunden war, aber sich überhaupt nicht bewahrheitet hätten. Nachträglich wurde vielfach bedauert, dass Deutschland sich verspätet öffnete und viele qualifizierte junge Polen stattdessen nach England auswanderten.

Markus Kluft von der Handwerkskammer Südwestfalen erwartet durch die Neuregelung kaum Auswirkungen: „Unser Fachkräftemangel ist sehr speziell und weit oben angesiedelt.“ Er bezweifelt, dass viele Bulgaren oder Rumänen über die Qualifikationen verfügten: „Auch wer genial an einer Drehbank von 1900 ist, wird heute nicht gebraucht. Da kommt es nicht auf Fingerspitzengefühl an, sondern auf Programm-Kenntnisse und Maschinenscheine.“