Hagen. .
Andrea Bolte ist Leiterin der Offenen Tür beim CVJM.
Frage: Warum kommen so viele Menschen zur Heiligabendfeier – ausschließlich weil sie arm sind?
Andrea Bolte: In den letzten Jahren habe ich ganz andere Beweggründe wahrgenommen. Neben der materiellen treibt so manchen Gast eine emotionale Bedürftigkeit zu uns. Es gibt sehr einsame Menschen, die nicht wissen, wohin sie gehören. Sie sehnen sich nach ein bisschen heiler Welt. Auch einigen unserer Helfer geht das so.
Was meinen Sie?
Sie bringen die gleiche Bedürftigkeit mit wie die Gäste. Sie wollen am Heiligen Abend nicht allein sein, sie suchen Kontakt.
Eine ganz neue Definition von Bedürftigkeit. . .
Es gibt sogar Menschen, die überhaupt kein Verhältnis zu Weihnachten mehr haben, die die Traditionen des Festes nicht mehr kennen. Im letzten Jahr war eine Familie mit drei Kindern bei uns, sie waren ganz offensichtlich nicht arm und nicht einsam. Als ich sie fragte, warum sie gekommen seien, antworteten die Eltern, sie wüssten nicht, wie man Weihnachten feiert. . .
Viele Besucher können also mit diesem christlichen Fest nicht mehr anfangen?
Das wird für uns schon sichtbar, wenn die Weihnachtslieder gesungen werden. Früher sangen fast alle – zum Teil auswendig – die Lieder mit. Heute nicht mehr. Heutigen Eltern mangelt es an einer entsprechenden Sozialisation in Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest.
Materielle Not spielt demnach keine so große Rolle mehr?
O doch, für die große Mehrzahl der Gäste ist zum Beispiel eine Tube Handcreme ein Luxus, den sie sich normalerweise nicht leisten können. Deshalb steckt so etwas ja in den Geschenktüten. Ich glaube, unsere Weihnachtsfeier ist immer auch ein Gradmesser der sozialen Situation vieler Menschen in unserer Stadt.
Man kann doch nicht behaupten, in Hagen werde nichts für die Armen getan. . .
Sicherlich gibt es viele Organisationen wie den CVJM, den Warenkorb oder Luthers Waschsalon, die sich um Bedürftige kümmern. Meine Aussage bezieht sich vor allem auf die empfundene soziale Kälte, die lässt sich nicht wegleugnen. Viele Arme fühlen ein soziales Loch in sich.