Hagen.

Wenn dein Vater Franz Beckenbauer ist, dann werden die Menschen ganz genau hinsehen, ob du eigentlich kicken kannst. Ob du sportlich bist. Wenn dein Vater Herbert Grönemeyer ist, werden die Leute wissen wollen, ob du musikalisches Talent hast. Wie du so singst. Was aber, wenn dein Ur-Onkel Friedrich Harkort ist? Einer der größten Pioniere, die unsere Stadt und das Ruhrgebiet jemals hervorgebracht haben. Ein Querdenker. Ein Idealist. Ein großer Industrieller. Ein Weltveränderer. Was ist, wenn dieser Mann dein Ur-Onkel ist?

Riesige Hände. Ein 2,06 Meter langer Körper. Ein aufmerksamer Blick. Nur der Scheitel kommt nicht hin. Dort oben, in 2,06 Meter Höhe, müsste es eigentlich lockiger sein. Etliche Generationen später kann Stephan Harkort seinen berühmten Ur-Onkel, Pardon: Ur-Ur-Ur-Onkel, nicht leugnen. „Der war auch ein langer Kerl“, sagt er zum Reporter herab.

Der Name Harkort wabert wie ein historischer Nebel durch die Straßen dieser Stadt. Spuren seines Wirkens, seiner schon Anfang des 19. Jahrhunderts fortschrittlichen Ideen sind an vielen Stellen in Hagen zu finden. Wenige Meter von Haus Harkorten entfernt verläuft die Harkortstraße. Einige Meter Luftlinie weiter liegt die Straße „An der Kohlenbahn“. Ein historische Anlehnung an die Schlebusch-Harkorter Kohlenbahn, die einst Silschede und Haspe miteinander verband und an die Harkort’sche Fabrik angeschlossen war.

Erstaunliche Parallelen

Das Gespräch mit seinem Ur-Neffen vor Haus Harkorten offenbart erstaunliche Parallelen. Denn wenn es tatsächlich so etwas wie ein Harkort-Gen gibt, dann ist Stephan Harkort Träger davon.

Sein Ur-Onkel – nicht nur Industrie- und Eisenbahnpionier, sondern auch Kreistagsabgeordneter des Westfälischen Provinziallandtags und später Mitglied des Norddeutschen Reichstags für den Kreis Hagen – starb im heutigen Dortmunder Stadtteil Hombruch. Exakt jenem Stadtteil in dem sein Ur-Neffe heute Politik macht.

Er ist Beisitzer in der CDU-Ortsunion Hombruch. „Ich mache nicht nur wie er Politik. Ich bin auch Industriekaufmann.“ Wie der Onkel so der Neffe.

Ist Hagen nun eigentlich Harkort-Stadt? Oder Wetter? Oder Herdecke? Oder wer? „Ich glaube, man darf sein Wirken nicht mit nur einer Stadt verbinden. Er war ein Macher der Region. Einer, der nicht in Stadtgrenzen gedacht hat.“ Das ist, was Stephan Harkort sich heute verstärkt wünschen würde. Nicht das eigene, sondern das große Süppchen kochen. Gemeinsamer Fortschritt, statt kommunaler Konkurrenzen.

So groß der Schatten ist, den das imaginäre Denkmal Harkorts über die Region wirft, so groß ist auch der Vorwurf, den ihm die Geschichte macht. Der Pionier war in gewisser Weise auch hochgradig naiv.

„So hart würde ich das nicht ausdrücken“, sagt Stephan Harkort, „aber im Prinzip stimmt es schon.“

Denn: Harkort zeigte, was er erfand, was er entwickelte. Er führte diejenigen, die eigentlich Konkurrenten waren, durch seine Werke. Er war Idealist. Er wollte Wissen weitergeben. Alle sollten profitieren. Nicht monetär, sondern des Fortschritts wegen.

Dieses gutmenschliche Handeln lässt ihn in der Rückschau gleichzeitig als instinktlosen Kaufmann dastehen. Harkort hat mal gesagt: „Mich hat die Natur zum Anregen geschaffen, nicht zum Ausbeuten, das muss ich anderen überlassen.“

Stolz auf Harkorts Selbstlosigkeit

War das falsch? Dumm? Naiv? Und hätte die Familie Harkort nicht gigantische Reichtümer erben können? „Vielleicht ja. Aber darum ging es doch gar nicht. Und ich bin auch stolz darauf, welche Folgen diese Selbstlosigkeit später hatte“, sagt sein Ur-Neffe. Denn Harkorts Ideen gaben der heimischen und der überregionalen Industrie kräftigeren Anschwung als jede seiner Dampfmaschinen es je hätte tun können.

„Wenn Sie mich fragen, was wir heute von meinem Ur-Onkel lernen könnten, dann würde ich sagen, dass es genau diese Selbstlosigkeit, gepaart mit dem Blick auf eine ganze Region ist, die ich mir wünschen würde. Mehr ,wir’ als ,ich’. Mehr Harkort.“

„Immer noch Harkort“ – vielleicht könnte man die heißesten Themen der aktuellen Politik, nicht zuletzt auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen, mit diesem Slogan umreißen. Der Industriepionier würde sich angesichts der Mindestlohn-Debatte sicherlich bestätigt fühlen, oder Herr Harkort?

„Das ist genau das, was mein Ur-Onkel gefordert hat.“ Als Reichstagabgeordneter setzte sich Harkort für verbindliche Löhne ein. Löhne, die in einem Verhältnis zum Gewinn des jeweiligen Unternehmens stehen sollten. Auf jeden Fall aber für Löhne, die eine gewisse Grenze nicht unterschreiten sollten. „Das Thema ist so aktuell wie 1850. Auch wenn sich die soziale Absicherung in unserem Land natürlich immens weiterentwickelt hat. Niemand fällt durch das soziale Netz. Das würde Friedrich Harkort heute gefallen.“

Harkort war ein Workaholic

Wenn Stephan Harkort an diesem diesigen Vormittag vor dem Ensemble des Haus Harkorten nicht auf einen Journalisten, sondern auf seinen berühmten Vorfahren treffen könnte, was würde er ihn dann fragen? „Dieser Mann muss ein Workaholic, ein Arbeitstier gewesen sein. Ich würde von ihm wissen wollen, wie er das alles geschafft hat. Industrieller und Politiker. Ich würde nach meinem Studium später gern auch mal ein Unternehmen leiten. Ich könnte Tipps gebrauchen, wie man das unter einen Hut bringt.“

Friedrich Harkort hat sich nie vor politische Karren spannen lassen. Er wurde zum Beispiel nicht Handelsminister unter Bismarck, weil er unabhängig bleiben wollte. „Trotz seiner Pleiten kann sein geschäftliches Handeln als Maßstab dafür gelten, was unter einem ehrbaren Kaufmann zu allen Zeiten zu verstehen ist“, schrieb Fritz Pudor über Friedrich Harkort.

Ein Politiker, der Politik um der Politik Willen machte. Ein Kaufmann, der zum Wohle der Gemeinschaft handelte. Ein Mensch, der unbiegsam war. Ein Hagener. Ein Ruhrgebietler. Hagen darf stolz auf Friedrich Harkort sein.

Großes Familientreffen

Zuletzt hat ein großes Familientreffen der Harkorts an dessen Geburtshaus in Haspe stattgefunden. Schlappe 200 Leute kamen da. Kaufmänner, Rechtsanwälte, Diplomaten. Menschen, die etwas aus sich gemacht haben. Menschen, die das Harkort-Gen tragen.

„Und auch Frauen, die trotz einer Heirat diesen Namen behalten haben“, sagt Stephan Harkort. Sie sind eben unbiegsam, diese Harkorts. Richtig unbiegsam.