Hagen. . Es ist der vielbeachtete Auftakt zu einem der letzten Prozesse gegen einen mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher: In Hagen steht seit Montag Siert B. vor Gericht. Der 92-Jährige schweigt zum Mordvorwurf, äußert sich nur zu seiner Staatsangehörigkeit.

Ein denkwürdiges Bild. Saal 201. Der 92-jährige Siert B. schiebt sich langsam, den Oberkörper stark nach vorne gebeugt, mit seinem marineblauen Rollator Richtung Anklagebank. Die Objektive des zwei Dutzend starken Pulks der Fotografen und Kameraleuten verfolgen ihn. Auftakt eines der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland am Landgericht Hagen.

Das öffentliche Interesse an seiner Person trägt der Greis aus Breckerfeld (Ennepe-Ruhr-Kreis) äußerlich gelassen. Die graugrünen Augen schauen ins Leere. Ausdruckslos vernimmt er die Verlesung der Anklage.

Verteidiger kündigt Erklärung "zu gegebener Zeit" an

Oberstaatsanwalt Andreas Brendel wirft dem früheren SS-Rottenführer vor, in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1944 in Delfzijl in den Niederlanden den Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema „heimtückisch“ mit einem inzwischen gestorbenen Mittäter erschossen zu haben. Angeblich mit den Worten „Geh’ mal eben pissen“ ließen sie den 37-Jährigen aus dem Auto steigen und erschossen ihn mit vier Schüssen von hinten. Später gaben sie an, das Opfer „auf der Flucht“ erschossen zu haben.

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Über seinen Anwalt Klaus-Peter Kniffka lässt der Rentner mitteilen, nichts zu den Vorwürfen sagen zu wollen. Sein Verteidiger kündigt „zu gegebener Zeit“ eine Erklärung an. Selbst beim Lebenslauf hüllt sich der Angeklagte in Schweigen. Nur einmal meldet er sich, wird hellwach. Es ist der Moment, als ihn die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen fragt: „Ihre Staatsangehörigkeit ist ungeklärt?“ Seine Antwort kommt prompt und energisch: „Ich bin seit 1942 Deutscher.“ Sagt es und versinkt wieder in seinem Stuhl.

Internist hält den 92-Jährigen für verhandlungsfähig

Die Frage, ob der alte Mann 69 Jahre nach dem Verbrechen verhandlungsfähig ist, beantwortet der Kölner Internist Prof. Dr. Christian Schneider mit Ja. Er attestiert Siert B. nach einer Untersuchung vor fünf Monaten eine chronische Lungenerkrankung und ein Wirbelsäulenleiden. Aus medizinischer Sicht spräche nichts gegen Verhandlungstage von drei Stunden, eine halbstündige Pause eingeschlossen.

An diesem Montag muss sich der Angeklagte nicht anstrengen. Nach 32 Minuten ist Schluss. Nächste Woche geht es mit der Verlesung von Vernehmungsprotokollen frühere Prozesse weiter. Mögliche Zeugen und Mittäter leben nicht mehr.

Für den Staatsanwalt spielt das Alter des Angeklagten keine Rolle

Genug Gesprächsstoff bleibt. Dass der Mordvorwurf nach Aktenlage angesichts des hoch betagten Angeklagten verhandelt wird, ist für Oberstaatsanwalt Brendel keine Frage: „Für die Anklage spielt das Alter keine Rolle.“ Es sei nicht wichtig wie alt der Angeklagte sei, „wenn ihm das Tötungsdelikt nachgewiesen werden kann“.

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Von Dietmar Seher, Gil Yaron und Christian Kerl

Bereits ihm April 1949 verhängte ein Sondergericht in den Niederlanden gegen Siert B. die Todesstrafe wegen der Teilnahme an drei Erschießungen. Später wurde die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt. Im Februar 1980 verurteilte ihn das Landgericht Hagen wegen Beihilfe am Mord an zwei jüdischen Brüdern in Delfzijl im April 1945. Fünf Jahre saß er ab.

Auslieferung in die Niederlande abgelehnt

Eine Auslieferung in die Niederlande lehnten die deutschen Behörden bislang ab. Siert B. war nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Deutschland geflohen und betrieb ein Holzverarbeitungsunternehmen.

Juristischer Hintergrund ist offenbar der Erlass Hitlers vom 25. Mai 1943, der Ausländern, die in der Waffen-SS dienten, die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannte. Ein Umstand, den Gerrit Duiker, einer der Angehörigen der Opfer aus den Niederlanden, die den Prozess im Saal verfolgen, nicht nachvollziehen kann. Der 78-Jährige: „Ein Gesetz Hitlers wird heute noch von der deutschen Justiz respektiert?“