Hagen/Breckerfeld. . Christian Kurrat (31) spricht über den Reiz des Pilgerns.

Eine ökumenische Pilgerwanderung führt in diesem Jahr durch Hagen und endet am 27. Juli in Breckerfeld. Mitveranstalter sind der Evangelische Kirchenkreis und das Dekanat Hagen-Witten. Unsere Zeitung sprach mit Christian Kurrat (31), Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Fernuniversität Hagen, der zur Zeit an der Fertigstellung seiner Promotion mit dem Titel „Renaissance des Pilgertums – Warum pilgern Menschen auf dem Jakobsweg“ arbeitet.

Sind Sie selbst gläubig?

Kurrat: Ja. Ich bin Protestant. Der Glaube ist für mich wichtig. Aber bei meinen Pilgerreisen und meinen Studienreisen zum Jakobsweg habe ich auch Atheisten oder Muslime getroffen, die gepilgert sind. Die Glaubensrichtungen der Pilger sind breit gefächert. Es ist bemerkenswert, dass die katholische Kirche dies unterstützt. Man muss nicht katholisch sein, um zu pilgern.

Warum pilgern Menschen?

Die großen Kirchen verlieren in Europa Mitglieder, die Gotteshäuser bleiben an Sonntagen leer und trotzdem machen sich immer mehr Menschen auf den Weg. Das ist schon ein erstaunliches Phänomen. Meine These ist, dass in erste Linie biografische Anlässe Menschen dazu bringen, zu pilgern. Das wird auch durch die Interviews und Gespräche gestützt, die ich mit vielen Pilgern geführt habe.

Was sind das genau für Anlässe?

Ich unterscheide fünf Hauptgründe: die biografische Bilanzierung, die biografische Krise, die biografische Auszeit, den biografischen Übergang und den biografischen Neustart. Die erste Gruppe sind Menschen in der letzten Lebensphase, die die mehrwöchige Ausnahmesituation des einsamen Wanderns mit einer geistigen Rückschau auf und Bewertung ihrer eigenen Lebensgeschichte verbinden. Die zweite sind Menschen, deren Leben durch ein ungeplantes Ereignis in naher Vergangenheit erschüttert wurde. Die dritte Gruppe leidet unter Stress im Alltag und will einfach mal raus. Angehörige von Gruppe vier machen sich zum Beispiel zwischen Schule und Studium auf den Weg. Die fünfte Gruppe halte ich für die Interessanteste: Kennzeichnend für sie ist, dass ein Kapitel des eigenen Lebens nach einer langen Leidensphase bewusst abgeschlossen wurde und das Pilgern als Vorbereitung für eine ungewisse Zukunft genutzt wird.

Was hat Sie persönlich veranlasst, sich auf diesen ungewöhnlichen Weg zu begeben.

Das war im Jahre 2008. Ich hatte gerade sechs Monate lang sehr intensiv an meiner Diplomarbeit geschrieben. Von daher gehöre ich wohl am ehesten in die vierte ­Gruppe.

Was hat Ihnen das Pilgern gebracht?

Für mich ist es die Erfahrung meines Lebens. Vieles hat sich neu geordnet, Prioritäten haben sich ebenso geändert wie meine Einstellung zum Leben. Alles, was man auf einer solchen Pilgerreise erlebt, steht dem Alltag diametral gegenüber. Beispiel: Zu Hause hatte ich eine geordnete Tagesstruktur, während meines Wegs erlebte ich täglich Neues, das den Tagesablauf bestimmte. Man erfährt, dass es ein Leben jenseits dessen gibt, was man bereits kennt.

Was lernt man auf einer solchen ­Reise?

Unheimlich viel über unsere Kulturgeschichte zum Beispiel. Täglich begibt man sich hunderte Jahre zurück auf eine Reise in die Vergangenheit. Auch die Naturerfahrung spielt eine große Rolle. Man nimmt viel mit ­allen seinen Sinnen auf.

Mit Christian Kurrat sprach Jens Stubbe.