Hagen. . Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, zieht eine kritische Bilanz zum Umgang der Deutschen mit ihren Kindern.
„Alle mal glücklich!“ Auf Zuruf der Fotografen lächelt eine Schar Kinder beim Fest zum Weltkindertag in Hagen auf Kommando. Mitten unter ihnen ist Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Im Interview mit unserer Zeitung zeigte sich der 64-Jährige gestern von seiner ernsten Seite und zog eine kritische Bilanz des Lebens des Nachwuchses zwischen Flensburg und Konstanz: „Deutschland ist weitgehend kindentwöhnt!“
Deutschland wird seit den 1980er Jahren als eher kinderfeindliches Land bezeichnet. Stimmt der schlechte Ruf noch?
Hilgers: Zum Teil. Ich würde es nur anders ausdrücken. Wir sind ein kindentwöhntes Land. Will heißen: Es gibt bei uns viel zu viele Stadtteile, in denen kaum noch Kinder leben. Das führt dazu, dass immer mehr Mitbürger nicht nur mit dem lauten Treiben von Kindern, sondern mit Kindern an sich nicht mehr umgehen können. Es ist traurig zu beobachten, wie so mancher Bürger, der an einer viel befahrenen Straße lebt, gegen den Lärm auf einem Hinterhof-Spielplatz vorgeht. Wenn Hotels damit werben, „kinderfrei“ zu sein, kann man das nicht kinderfreundlich nennen.
Was haben wir in den letzten Jahrzehnten falsch gemacht?
Wir haben Erziehung und Bildung voneinander getrennt. Die Deutschen haben im Kopf, dass für Bildung der Staat und die Schulen zuständig sind und für die Erziehung die Eltern. Bildung, Erziehung und Betreuung sind aber ein ganzheitlicher Prozess.
Karl Valentin hat mal gesagt: Erziehung hat keinen Zweck, Kinder machen uns sowieso alles nach. Will heißen: Wir alle sind Vorbilder und somit auch ständig in einem Erziehungsprozess. Auch Lehrer. Nur wenn wir es schaffen, Bildung, Erziehung und Betreuung politisch, juristisch und gesellschaftlich in der Lebenswirklichkeit zusammenzubringen, sind wir auf dem richtigen Weg.
Ist das gegliederte Schulsystem noch zukunftstauglich?
Statt eine neue Debatte darüber zu entfachen, sollten wir individuelle Konzepte für jede einzelne Schule erarbeiten. Will heißen: Das Rasenmäher-Prinzip hat ausgedient. Erfolgversprechend sind die unter dem Stichwort „Binnendifferenzierung“ zusammengefassten passgenauen Zielvereinbarungen mit Kindern. Schulverträge, Schulprofile und individuelle Zielvereinbarungen für jedes einzelne Kind - das ist der richtige Weg, mit dem wir unsere Kinder und somit unser Land weiterbringen.
Die Kinderarmut in Deutschland nimmt zu. Was läuft schief?
Die Probleme sind vielfältig: Zum einen stimmt der Familienausgleich nicht. Mit jedem zusätzlichen Kind sinkt das frei verfügbare Einkommen einer Familie. Ein viertes Kind kann sich eine Familie mit einem Durchschnittseinkommen nicht mehr leisten. Hinzu kommt, dass die Zahl der Alleinerziehenden steigt. 45 Prozent von ihnen gelten als arm. Und die Sätze für Hartz-IV-Bezieher gehen völlig an der Realität vorbei. Für die Hygiene eines Babys erhalten sie sechs Euro im Monat. Das reicht noch nicht einmal für ein Paket Windeln. Wenn Hilfe-Empfängern Kindergeld gestrichen wird und gleichzeitig Spitzenverdiener bis zu 500 Euro im Monat über verschiedene Freibeträge erhalten, dann stimmt etwas nicht. In 20 Jahren werden laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung weniger als zehn Millionen Kinder in Deutschland leben. Vier Millionen von ihnen fallen unter die Armutsgrenze. Da kommt ein enormes Problem auf Deutschland zu.
Was muss getan werden?
Der Kinderschutzbund fordert seit Jahren eine Kindergrundsicherung. Sie müsste die unübersichtliche Fülle von staatlichen Leistungen ablösen. Darüber hinaus brauchen wir mehr qualifiziertes Personal in Kindertagesstätten und Schulen. Sonderpädagogen fehlen vor allem in Problem-Stadtteilen.
Aber das Allerwichtigste bleibt, Kindern mit Liebe zu begegnen und sie ernst zu nehmen. Sie sollten an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Außerdem ist es an der Zeit, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Ein Recht auf gesundes Aufwachsen, auf Schutz, Förderung, Bildung und Beteiligung. Lassen Sie mich abschließend etwas sagen, was eigentlich selbstverständlich ist: Nur Kinder, die man wertschätzt, reagieren wertschätzend.