Hagen. . Ricarda D. (76) ist ihr ganzes Leben lang nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Seit 33 Jahren hat sie ihren Führerschein und nicht einen einzigen Punkt in Flensburg. Doch dann, am 30. August vergangenen Jahres, war sie im Straßenverkehr einen kurzen Moment unaufmerksam – und da ist es passiert.
„Der kam aus dem Nichts“, sagt die Rentnerin aus Vorhalle. Sie ist schuld am Tod eines Motorradfahres (50), hat ihn, wie sie beteuert, „nicht gesehen“, zumindest aber übersehen. Als sie um 16.28 Uhr – auf der Volmarsteiner Straße in Richtung Wetter fahrend – hinter der Spedition Ottensmann links in die kleine Verbindungsstraße Am Süßenberg abbiegen wollte. Und dabei ihr Auto unter Missachtung der Vorfahrt die Gegenspur kreuzte, auf der ihr der Mann mit dem Krad entgegenkam. Der Familienvater hatte keine Chance, der urplötzlich vor ihm auftauchenden Barriere noch auszuweichen.
Motorradfahrer erlag seinen Verletzungen
Trotz neuneinhalb Meter langer Bremsspur prallte er mit etwa 70 Stundenkilometern Geschwindigkeit frontal in den Toyota der alten Dame, überschlug sich mit dem Motorrad und flog im hohen Bogen über das Auto. Peter R. erlag seinen schweren Verletzungen. Zurück bleiben eine ebenso fassungslose wie traurige Ehefrau und seine Tochter.
Rentnerin Ricarda D. sitzt wegen fahrlässiger Tötung vor dem Schöffengericht. Die Witwe sprudelt nur so aus sich heraus: „Es gab plötzlich einen schrecklichen Aufprall seitlich. Ich sah eine schneeweiße Wand, dachte: Das war’s, jetzt bist du tot.“ „Dann spürte ich Sandkörner zwischen den Fingern, die kleinen Splitter von der Scheibe.“
Zeuginnen können Aussage nicht bestätigen
In akribischen Details breitet die alte Dame das traurige Ereignis aus ihrer Sicht aus. Geradezu verliebt in grausame Einzelheiten. Die zahlreichen Zuhörer im Gerichtssaal erschaudern. Eine so farbenfrohe Schilderung eines furchtbaren Unfallgeschehens hört man selten.
Doch dass sie, wie Ricarda D. behauptet, „angehalten und noch etwa fünf entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen“ hat, bevor sie nach links abbog, können Zeuginnen nicht bestätigen. Eine geschockte Taxifahrerin: „Sie fuhr in einem Fluss, da gab’s kein Halten. Ich habe ihn direkt drüberfliegen sehen und alles jede Nacht noch vor Augen.“
Kein Führerscheinentzug
Auf ihren Führerschein möchte die 76-Jährige auch nach dem schweren Unfall nicht verzichten: „Da ich sehr ländlich wohne, würde ich ihn gerne behalten.“ Sie arbeitet als Kunsttherapeutin für Suchtkranke, verfügt zusammen mit vier Renten über 1930 Euro Monatseinkommen.
Das Gericht verhängt 10.800 Euro Strafe. Körperliche, geistige oder altersbedingte Gebrechen lägen bei der Witwe nicht vor, deshalb fehle die gesetzliche Grundlage für einen Führerscheinentzug. „Wir können ihr nur dringend ans Herz legen“, so Richter Michael Brass, „freiwillig auf die Fahrerlaubnis zu verzichten.“