Hagen. . Interview mit einem Denker: Peter Brandt, Geschichtsprofessor in Hagen und ältester Sohn des berühmten Sozialdemokraten Willy Brandt, über die deutsche Nation, Europas Zukunft und seinen Vater. Seine wichtigste These: Ohne gesicherte Nationalstaaten ist die europäische Einheit nicht möglich.

Peter Brandt ist nicht leicht zum Interview zu überreden. Mit Aussagen über seinen Vater hält sich der Historiker meist sehr zurück. Für uns macht der 63-Jährige eine Ausnahme, aber er gibt das Thema vor. Eines, das ihm am Herzen liegt: Patriotismus. „Für die Generation meines Vaters war die Nation noch eine selbstverständliche Bezugsgröße und Gegenstand des Engagements“, sagt Brandt.

Herr Brandt, Sie beschäftigen sich als Historiker wie auch als politischer Publizist mit Themen wie „Nation“ und „Patriotismus“. Ihr Vater ebenfalls. Teile der politischen Linken verstehen das nicht. Warum ist Ihnen „Patriotismus“ so wichtig?

Peter Brandt: Für die Generation meines Vaters war die Nation noch eine selbstverständliche Bezugsgröße und Gegenstand des Engagements. Bedenken Sie auch, dass die Teilung unseres Landes den Berlinern heißer auf den Nägeln brannte als den Menschen im Westerwald oder am Bodensee. Grundsätzlich besitzt das Nationale auch heute noch eine wesentliche Bedeutung sowohl für das Gemeinwesen als auch für den Einzelnen, und das weitgehend unabhängig von unseren Wünschen, wenn es auch nichts Selbstverständliches mehr hat.

Dass die Nation wie die Industrialisierung und der Verfassungsstaat, mit dem sie historisch eng verknüpft ist, eine der grundlegenden Erscheinungen der letzten 250 Jahre der Weltgeschichte und insofern Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, dürfte ohnehin klar sein.

Was macht den Patriotismus von Willy Brandt aus?

Professor Dr. Peter Brandt aus Hagen geht im Interview hart mit der politischen Linken ins Gericht. Foto: Thomas Nitsche
Professor Dr. Peter Brandt aus Hagen geht im Interview hart mit der politischen Linken ins Gericht. Foto: Thomas Nitsche

Brandt: Es ist ein „demokratischer Patriotismus“. Damit meinte er das Gegenteil des englischen Wahlspruchs „Recht oder Unrecht – es ist mein Vaterland“. Willy Brandt war ein demokratischer und europäisch-weltbürgerlich geprägter, gesamtdeutscher Patriot, dessen Nationsbegriff auch eine soziale Dimension hatte. Zum demokratischen Patriotismus gehörte bei ihm übrigens auch, sich gegebenenfalls gegen die Herrschenden im eigenen Land zu stellen.

Müssten wir nicht gerade heute die Nation nach hinten stellen? Wir bauen am vereinten Europa.

Brandt: Ich befürworte ein vereintes Europa. Das ist realistischerweise aber nur vorstellbar auf der Basis gesicherter Nationalstaaten als Baustein einer engeren Europäischen Union. Ich glaube zudem nicht, dass sich die Nationen als historisch gewachsene Gefühls- und Bewusstseinsgemeinschaften auflösen werden wie „Zucker im Kaffee“.

Wir haben es bei der EM gesehen: Leute schmücken ihr Autos mit Fahnen. Ist das harmlos?

Brandt: Das ist völlig unproblematisch und in gewisser Weise sogar befreiend. Ich würde keine Fahne an mein Auto – oder richtiger: Fahrrad stecken, aber ich will andere nicht dafür kritisieren. Erinnern wir uns an die WM 2006. Da gab es keine Aggressionen, sondern eine verbindende Fröhlichkeit, und das ist das Entscheidende.

Dann reden wir mal über die hässliche Seite, über NSU-Morde, Fremdenhass in Deutschland und in Europa, rechte Populisten überall.

Brandt: Der Rechtsradikalismus hat in vielen Ländern Europas eine neue Funktion. In ihm äußert sich auch sozialer Protest. Vielfach gelten Sozialdemokraten und Linke in der Unterschicht inzwischen eher als etabliert. Sie gelten als Teil des Establishments, und das ist fatal. Der soziale Protest artikuliert sich heute vielfach ultra-rechts. Das ist ein Versagen der politischen Linken. Sie spricht nicht mehr die Sprache der Schwächeren und findet nicht mehr den Zugang zu ihnen.

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ ist ein bekannter Satz von Willy Brandt. Was würde er heute über die Einheit denken?

Brandt: Ich bin ungern in der Rolle dessen, der sagt, wie Willy Brandt heute denken würde. Das weiß keiner. Was man aber sicher sagen kann: Er hätte bei den Problemen, die wir noch immer mit der inneren Einheit haben, hilfreich sein können. Ich habe oft bedauert, dass er nicht mehr da ist.

Willy Brandt hatte eine große Begabung: Er konnte dem einen die jeweils andere Seite verständlich machen. Er fand Vertrauen auf unterschiedlichen Seiten. Er wurde im Osten Deutschlands auch kaum als Vertreter einer rheinisch-süddeutsch geprägten Westrepublik wahrgenommen.

Europa definiert sich gerade neu. Ist das, was geschieht, im Sinne von Brandt senior?

Brandt: Er war jedenfalls für die europäische Einigung. Das europäische Projekt, das sage ich jetzt, braucht eine Richtungsänderung hin zur Festigung statt zum Abbau des Sozialstaats und zur Regulierung des Marktes, insbesondere des Finanzmarkts.

Ist das ein Vermächtnis von Willy Brandt?

Brandt: Er hat das jedenfalls mit vertreten. Der Sozialstaat ist Teil unseres Demokratiemodells, anders als in den USA. Wenn wir Europa sozialer machen, wird es auch mehr Unterstützung von den Völkern finden. Die Bürger erleben ja Europa oft nicht als Schutzraum, sondern eher als Bedrohung.

Sie sind in Berlin aufgewachsen. Als die Mauer gebaut wurde, waren Sie 13 Jahre alt. Haben Sie mitbekommen, wie Ihr Vater auf diese dramatischen Ereignisse reagierte?

Brandt: Ich habe als Kind zwangsläufig viel mitbekommen. Das Politische wurde ja nicht ausgeblendet, nur weil die Kinder dabei waren. Von meinem Vater ging aber eher Ruhe aus.

Auch 1961?

Brandt: Absolut. Ruhe im Sinne von: Wir müssen keine Angst haben. Das gehörte natürlich zu seiner Rolle als Regierender Bürgermeister, aber es war auch sein Charakter. Mein Vater war nicht ängstlich. Ein Jahr nach dem Mauerbau spitzte sich die Lage noch einmal extrem zu. Damals verblutete der junge Flüchtling Peter Fechter im Todesstreifen. Das Ereignis heizte die Stimmung unheimlich an, auch bei uns zu Hause. Da habe ich meinen Vater sehr zornig erlebt. Zwei Wochen später, die Mutter hatte sich schon schlafen gelegt, nahm mich mein Vater zur Seite und sagte: ,Du bist der älteste Sohn. Es kann sein, dass ich längere Zeit nicht nach Hause komme. Du musst deine Mutter unterstützen.’

Wie war das gemeint?

Brandt: Zunächst verstand ich das nicht, weil er ungewöhnlich ernst war und wohl nicht gefragt werden wollte. Später hat er es mir gesagt. Die Alliierten rechneten mit einem Großangriff auf West-Berlin. Es gab einen Plan der Senatsregierung, einen kleinen Bezirk um das Rathaus Schöneberg bis zum Letzten zu verteidigen. Mit Alliierten, mit Polizei und mit Freiwilligen, die Kriegserfahrung hatten. Das war der Hintergrund seiner Bemerkung zu mir.

In der Öffentlichkeit kam Brandt als emotionaler, warmherziger Mensch rüber. Privat scheint er distanzierter gewesen zu sein, wenn man das Buch Ihres Bruders Lars liest.

Brandt: Wenn in einer Familie fünf Kinder beieinander sitzen, und alle sollen über ihren Vater reden, dann kommen fünf verschiedene Geschichten raus. Ich habe ihn wirklich als Vater erlebt. Er war zwar wenig zu Hause. Aber ich hatte als Kind nicht das Gefühl, dass er nicht präsent war, wenn er da war.

Für den jüngsten Bruder Matthias war es sicher schwieriger. Ich blieb ja in Berlin, als mein Vater Ende 1966 nach Bonn ging. Dort hatte er noch viel weniger Zeit für die Familie und eine gewissermaßen abgehobene Stellung.

Hatte er auch in der Familie versöhnende Qualitäten?

Brandt: Er hat sich nicht sehr eingemischt. Mein Vater setzte seine Autorität sparsam ein. Vielleicht hatte sie gerade deshalb Wirkung.

Wäre ein Politiker wie Willy Brandt heute noch wählbar?

Brandt: Oft nennt man Brandt, Strauß, Wehner und Schmidt in einem Atemzug. Das waren sehr ausgeprägte Persönlichkeiten mit Schicksalen aus einer anderen, sehr dramatischen Zeit. Eines ist klar. Wenn wir noch eine Generation weiter zurück schauen, ist die Distanz in jeder Hinsicht noch größer.. Kurt Schumacher hat die Leute damals ungeheuer beeindruckt, heute würde sein Stil wohl als unpassend empfunden werden.

Es gibt aber auch heute immer wieder Politiker, die Ausnahmegestalten sind, zum Beispiel Nelson Mandela in Südafrika, Luna da Silva in Brasilien, Evo Morales in Bolivien oder Vaclav Havel in Tschechien – wohl nicht zufällig alles Gestalten aus sozialen und antidiktatorischen Befreiungsbewegungen statt aus dem etablierten Politikbetrieb der westlichen Welt.