Hagen. .
Einst befand sich Reinhard Oida (49) auf der falschen Seite. Er war in einen Gottesdienst für Gehörlose geraten und verstand kein Wort. Und war doch so fasziniert von den Gebärden und der Mimik der gehörlosen Menschen, dass er beschloss, ihre Sprache zu lernen.
Häufig sind es die Gehörlosen, die sich auf der falschen Seite wähnen. Auf der falschen Seite der Gesellschaft, als lebten sie in einer Parallelwelt, sie können sich nicht verständigen und werden nicht verstanden. Reinhard Oida, städtischer Mitarbeiter im Amt für Geoinformation, Vermessung und Liegenschaftskataster, ist angetreten, das zu ändern.
Auf seine Initiative hin wurde im Zentralen Bürgeramt des Rathauses eine Sprechstunde für Gehörlose anberaumt. Dort können sich Betroffene an jedem vierten Dienstag im Monat von 14 bis 17 Uhr im wahrsten Sinne des Wortes Gehör verschaffen. Ihnen gegenüber sitzt Reinhard Oida, der Beamte aus dem Katasteramt. Jener Gottesdienst hat ihn nie mehr losgelassen, inzwischen hat er die Gebärdensprache gelernt, er kann sich mit Gehörlosen unterhalten: „Ich bin nicht perfekt, ich bin keineswegs ein Dolmetscher“, sagt er bescheiden. „Manchmal muss ich im Gebärden-Wörterbuch nachschlagen.“ Doch es reicht allemal, um dem zuständigen Beamten zu übersetzen, was der Gehörlose auf der anderen Seite des Schreibtisches für ein Anliegen hat und dem Gehörlosen die Antwort des Beamten mitzuteilen.
Für Oberbürgermeister Dehm ist Oida ein leuchtendes Beispiel für die Talente, die in den Mitarbeitern der Stadtverwaltung schlummern. Denn Oida hat die Gebärdensprachkurse in seiner Freizeit belegt und privat finanziert. Und er war es auch, der dem Stadtoberhaupt vorschlug, die Sprechstunde einzurichten. „Gebärdensprache ist eine wunderbare Sprache“, findet Oida. „Wie man Freude, Hass, Wut, Ekel ausdrückt, das grenzt an Schauspielkunst.“ Es gibt in seinem Bekanntenkreis niemanden, der gehörlos ist, er hat sich einzig an die Gebärdensprache herangemacht, weil er der Faszination der Handbewegungen und der Mimik erlegen ist, und vielleicht auch, weil er etwas für die Menschen auf der anderen Seite tun will. Aber das würde der zurückhaltende Oida nie von sich behaupten.
In Hagen leben rund 1200 gehörlose Menschen, für die ein Behördengang einem Hürdenlauf ähnelt. Dass sich mit der Zeit Scheu und Angst bei vielen breitgemacht haben, dürfte nicht überraschen. In der Tat ist Hagen eine der wenigen Städte in NRW, die eine Gehörlosen-Sprechstunde anbieten können. Ausgegrenzt fühle er sich bisweilen, berichtet Michael Sonntag (37), selbst wenn er sein Ersuchen auf einem Zettel notiere, werde er nicht recht verstanden: „Deshalb bin ich dankbar, dass Herr Oida für uns da ist.“
Unterstützt wird Oida in den Sprechstunden von der städtischen Angestellten Nadine Meier (29), die auch schon einen Gebärdenkurs belegt hat. Wenn das Angebot während einer zunächst einjährigen Probephase gut angenommen wird, soll es auf weitere Bereiche der Stadtverwaltung ausgedehnt werden. Dann gibt es für niemanden mehr eine falsche Seite, dann gibt es überhaupt keine andere Seite mehr. Dann wäre Reinhard Oida seinem Ziel, die Gehörlosen und die Hörenden in einer Welt zu vereinen, näher gekommen.