Hagen/Im Westen. . Ist das die berüchtigte Studenten-Flut, die sich da zwischen die giftgrünen Sitzbänke schiebt? Zugegeben, es ist voll im Hörsaal der TU Dortmund, doch das spektakuläre Massengedränge aus den Medien will sich nicht so recht einstellen. Wo all die sind, die sich hier zu Semesterbeginn auf der Treppe zwängten? „Zuhause“, mutmaßt jemand in den vorderen Reihen. Für die noch immer zahlreichen Anwesenden steht ein Marketing-Tutorium auf dem Programm. Den theoretischen Stoff aus der Vorlesung sollen die Wirtschaftswissenschaftler hier in Kleingruppen praktisch anwenden. Dass die Kleingruppe in diesem Fall aus 150 Studenten besteht – es ist ein Beispiel dafür, wogegen am Donnerstag bundesweit Bildungsstreiks stattfinden. Auch in Dortmund, Bochum oder Essen wird demonstriert.
Um Schulthemen wie Turbo-Abitur, kleinere Klassen und mehr Lehrer geht es dabei zum einen – aber eben auch darum, was Wehrpflichtende und achtjähriges Abitur den deutschen Hochschulen in diesem Jahr bescherten: Rekordzuwächse und manches Kapazitätsproblem.
Die Uni Duisburg-Essen ging durch die Medien, weil sie ihre Studenten zur Vorlesung in angemietete Kinosäle bittet, in Dortmund war es ein Vorfall in der Elektrotechnik, der Schlagzeilen machte: In der überfüllten „Einführung in die Programmierung“ sollten die auf den Treppen hockenden Studenten aus Sicherheitsgründen den Raum verlassen.
Sitzstreik im Rektorat
Niemand dachte daran, der Professor brach die Vorlesung ab und wies auf einer Folie den Weg zum Rektorat. Nachdem sich darauf etwa 50 der Vertriebenen dort zum Sitzstreik einfanden, organisierte die Uni eine Lösung – die Vorlesung wird nun zweimal wöchentlich gehalten. „Mich hat überrascht, dass das ausgerechnet im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich passiert ist“, staunt AStA-Referent Johannes Blömeke. „Gerade diese Fakultäten haben sich bei der Planung sehr ins Zeug gelegt. Da liest ein Professor seine Veranstaltung dann im Zweifelsfall eben doppelt. Viel mehr Probleme haben wir im Lehramt.“ Wer in der Germanistik nach Plan vier Seminare belegen soll, ergattert oft nur in einem einen Platz. In den Vorlesungen gibt es zwar keine Teilnahmebeschränkungen – dafür sind hier die begleitenden Tutorien Mangelware.
Dabei stehen die Dortmunder Studenten mit diesen Problemen nicht alleine da: „Ich hätte in diesem Semester mein Latinum machen sollen, aber ich habe in keinem der Kurse einen Platz bekommen“, erzählt Marvin Schnippering an der Ruhr-Universität Bochum. Der Geschichtsstudent sitzt mit seinen Kommilitonen im Tutorienzentrum der Uni. Die Gruppe hat mit 15 Studenten eine ideale Größe, zudem ist das „TUZ“ ein heller, moderner Bau. Der Schönheitsfehler: Die „Räume“ dort sind eigentlich nur ein einziger, der durch niedrige Raumtrenner unterteilt wird. „Das sollen Lärmschutzwände sein“, höhnt einer der Studenten.
Theologie ist in Mode
Tatsächlich hat die Tutorin trotz der kleinen Gruppe Mühe, den Klangteppich im Hintergrund zu übertönen. Nicht für jeden der Lehramtsstudenten war Geschichte die erste Wahl: Der Numerus Clausus in Anglistik oder Germanistik ist schlichtweg zu hoch für viele. Ein noch extremerer Fall ist die katholische Theologie: Da sie für die Lehrämtler noch zulassungsfrei ist, entdecken viele unerwartet ihr religiöses Interesse und drängen sich in den Vorlesungen wie auf der Arche Noah.
Die Hochschulen gehen durchaus unterschiedlich mit dem Ansturm um: Während die Unis in Dortmund und Duisburg-Essen zum Beispiel weiterhin Rekordzuwächse verzeichnen, hat man in Bochum die Zahl der Neuaufnahmen konstant gehalten – erstmals seit langem. Die Kehrseite hierbei ist klar: Fast alle Studiengänge hier sind inzwischen mit einem NC belegt, dessen Kurve in der Regel steil nach oben zeigt. So kommt eine altbekannte Argumentationskette in Gang: Während die Studierenden über die hohen Notenhürden klagen, findet Ruhr-Uni-Pressesprecher Dr. Josef König: „Wir müssen denen, die schon hier studieren, ein gutes Studium ermöglichen. Wenn Studienplätze fehlen, muss die Politik mehr Geld für neue geben.“
Im Dortmunder Hörsaal hat Erstsemester Stephan Haag derweil einen Platz in der letzten Reihe gefunden. Ja, seine Veranstaltungen seien eigentlich alle so voll. „In so einem großen Fach ist das wahrscheinlich normal, ich gewöhne mich langsam daran“, zuckt er mit den Schultern.
Steife Lehrpläne
Genervt ist Haag von dem Gedränge trotzdem. „Ich kann verstehen, wenn die Leute auf die Straße gehen.“ Selbst hat er bisher allerdings nicht vor, mitzudemonstrieren. Auch sonst ist es mit dem beschworenen Wutbürgertum nicht allzu weit her. Die meisten von Haags Mitstudenten haben von einem Bildungsstreik gar nicht gehört, während Marvin Schnippering in Bochum den Protesten kritisch gegenübersteht: „Ich denke, dass die meisten Teilnehmer nur einen Grund suchen, nicht zur Schule zu müssen oder Krawall zu machen.“
Und die, denen all das noch bevorsteht? Helena Zink wird im nächsten Jahr ihr Abitur am Gymnasium Hohenlimburg machen. Die schulbezogenen Forderungen des Streiks kann sie aus eigener Erfahrung verstehen: „Pisa spricht ja Bände. Effektiv kann unsere Lehrsituation also nicht sein.“ Dabei sind es weniger individuelle Probleme ihrer Schule, die sie stören, als allgemeine Fragen – den versteiften Lehrplan zum Beispiel findet sie für das spätere Leben wenig hilfreich. „Ich würde mir wünschen, dass mehr Lehrer sich an neue, vielleicht noch komisch erscheinende Methoden heranwagen. Aber man muss sich wohl damit abfinden, dass wir alles Mögliche lernen, ohne auch nur einen Schimmer von der Praxis zu haben.“
Dass das in der Uni anders wird, bezweifelt sie zwar, aber den Optimismus will sie sich davon nicht nehmen lassen: „Klar ist es manchmal abschreckend, was man so über diesen Ansturm hört. Aber die können die ganzen Studenten ja nicht für immer warten lassen!“