Hagen. .

Die Leute in den Hagener Bergdörfern können sich gar nicht vorstellen, dass der Linnepe Herbert mal nicht mehr bei ihnen vorbeikommen und Brot und Teilchen verkaufen könnte. Der Linnepe Herbert ist jetzt 85 und macht seine Tour seit 56 Jahren. „Und solange der Herbert kommt, kaufen wir auch bei ihm ein“, sagt der Bühren Fritz.

Wir sind in Brechtefeld, einem jener 2- oder 5- oder 12-Einwohner-Flecken in den Hügeln oberhalb von Dahl, wo es weit und breit keine Metzgerei geschweige denn eine Drogerie, geschweige denn eine Bäckerei gibt.

Aber es gibt Herbert Linnepe. Er ist zwar längst Rentner, er hat seine alteingesessene Konditorei samt Café im Ortskern von Dahl an seinen Sohn Wilfried (56) weitergegeben, doch die Fahrt durch Rumscheid und Stollen, durch Hunsdiek und Endte, Röteldiek und Niggenbölling, Brantenberg und Hobräck und vorbei an weiteren abseits gelegenen Häusern, die nicht einmal ein Ortsname schmückt, lässt er sich nicht nehmen. An jedem Freitag und Samstag schnauft er mit seinem VW Bulli die Berge hinauf, um die Einwohner der abgeschiedenen Gehöfte und Mini-Dörfer mit Gebackenem zu versorgen. „Klasse, dass es so etwas noch gibt“, sagt Gisela Bastian-Perkert (56) aus Deipenbrink und steckt einen Laib Brot und einen Knubbel, einen Rosinenstuten, ein: „Das Brot ist für mich und meinen Mann, der Knubbel für meinen Vater im Altenheim.“

Deipenbrink besteht aus vier Häusern

Deipenbrink besteht aus vier Häusern, Sürenhagen aus dreien weniger. In dem ebenso einsamen wie beliebten Gasthof von Wilhelm und Gretel Becker kehrt Linnepe stets ein, um einen Kaffee zu trinken, den er mit einem Pfund Schwarzbrot bezahlt. „Herr Linnepe hat aber auch ein tolles Schwarzbrot“, berichtet Gretel Becker, nachdem der Tauschhandel perfekt ist.

Der Bäckermeister aber trinkt seine Tasse aus, genug geplaudert, jetzt muss er weiter, Manfred Rose (81) wartet schon vor seinem Hof, in dessen Einfahrt Linnepe mit einer ausholenden Schleife einbiegt: „Unser Ulrich sagt immer, es gibt keinen besseren Semmel als den von Linnepe“, spart auch Rose nicht mit Lob. „Seit 30 Jahren, seit mindestens 30 Jahren kaufen wir unser Brot ausschließlich bei ihm.“ Und die beiden alten Männer geraten ins Sinnieren über Zeit und Vergänglichkeit und die neuesten Neuigkeiten, die Linnepe aus dem großen Dahl in die Abgeschiedenheit der Weiler mitbringt.

Herbert Linnepe kennt Hinz und Kunz und die Familien- und Berufs- und Krankengeschichte aller Einwohner im Hagener Ländle. Er weiß noch von dem Dorfpolizisten - aus jener Zeit, in der es noch Dorfpolizisten gab -, der ihm verbieten wollte zu hupen, wenn er die Einsiedlerhöfe anfuhr, um deren Bewohner aus dem Haus zu locken. Und in den 50-er Jahren, da bezahlten die Leute das Brot für ein ganzes Jahr im voraus. Und er deponierte das Brot auf der Fensterbank oder einer anderen verabredeten Stelle, wo die Bauern, die gerade auf dem Feld waren, es finden konnten. „Ja, ja, der Herr Linnepe ist einmalig, das muss man laut sagen“, sagt Sieglinde Wiggenbröker (64). „Er ist ein alter, erfahrener Hase, der schafft es auch im Winter zu uns herauf.“ Und wie zur Bestätigung nickt ihre Schwägerin Erni Wiggenbröker (67): „Bei Eis und Schnee habe ich schon oft geglaubt, wir seien abgeschnitten von der Welt. Und dann kommt der Herr Linnepe mit Schneeketten hier oben vorgefahren.“

Bei Wind und Wetter standen die Leute an der Straße

O ja, Herbert Linnepe ist gesund und geistig auf der Höhe, auf einem Motorrad hat er 1955 mit seinen Brotfahrten begonnen, und der ovale Brotkorb stand auf dem Tank der Maschine. „Ich habe eine gute Frau“, sagt er. „Sie stammt auch aus Dahl, und mit ihr habe ich den Bauernfang meines Lebens gemacht.“ Irmgard Linnepe (86) ist die Tour früher ebenfalls gefahren, bei Wind und Wetter hätten die Leute an der Straße gestanden und auf den Brotwagen gewartet, erinnert sie sich: „Und sie wollten immer ein Pröhlken halten, und es war immer spät, bis ich wieder daheim war.“

Es menschelt beim Brot- und Kuchenverkauf am VW Bulli; undenkbar, dass sich das Zwiegespräch auf „3 Euro fuffzig und Danke und Wiedersehen“ erschöpfte. Für Helga Wach (75) in Röteldiek hat Linnepe immer ein Teilchen und für sich selbst auch eins dabei, sie bittet ihn herein zu einer Tasse Cappuccino mit Kakao, von ihrem Wohnzimmer schweift der Blick durch das Panoramafenster über die Dahler Höhen: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ein Freitag vergeht und der Herbert war nicht hier“, sagt Frau Wach, die den Bäckermeister schon seit Kindertagen kennt und seit jeher mit ihm per Du ist.

Und so fährt Herbert Linnepe von Dorf zu Dorf, was hier heißt von Haus zu Haus, er verkauft Semmel, Knubbel, Berliner und Puddingplätzchen und Kaffee, er braucht keine Plastikhandschuhe anzuziehen wie die Verkäuferinnen in den Backshops in der Stadt, das würde seine Kunden nur beleidigen, „wir sind noch wie früher“, sagt Fritz Bühren (79). Die Jahre sind über die Menschen hinweggegangen, aber Herbert Linnepe ist noch da wie anno 1955, als er seine erste Brottour fuhr, ein unveränderliches Stück Heimat, ein Bäcker vom alten Schrot und Korn, mehr als ein Bäcker: ein feiner Mensch aus der guten, alten Zeit.