Hagen.

Mit sicherer Hand führt Werner Oehl die Tuschfeder über das schneeweiße Papier. Der 86-Jährige hat sich voll und ganz der Kalligraphie verschrieben. Seine Aufgabe ist das Buch der Bücher: Werner Oehl schreibt die Bibel.

Werner Oehl gestaltet seit 2003 seine eigene Bibel.  Foto: Michael Kleinrensing
Werner Oehl gestaltet seit 2003 seine eigene Bibel. Foto: Michael Kleinrensing © WP Michael Kleinrensing

Mit sicherer Hand führt Werner Oehl die Tuschefeder über das schneeweiße Papier. Mit nahezu mechanischer Präzision fügt sich ein Buchstabe an den nächsten. Eine Kunst, wie sie einst die Mönche bis zur Perfektion an ihren Schreibpulten in der klösterlichen Abgeschiedenheit kultivierten und zelebrierten. Für den 86-Jährigen bedeutet Kalligraphie vor allem Entspannung: „Wenn die Leute mich fragen, womit ich den lieben langen Tag verbringe, versichere ich immer nur: Ich habe keine Langeweile – ich schreibe die Bibel.“Als 2003 die Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen das Jahr der Bibel ausrief, fühlte sich der katholische Kirchgänger direkt angesprochen und begann mit der intensiveren Lektüre im Buch der Bücher: „Doch ich bemerkte schnell, dass mir das Lesen allein zu wenig ist“, erinnert sich Oehl, „schreiben, da hat man mehr davon.“ Zunächst ausschließlich mit schwarzer Tusche garniert mit skizzenhaften Bibelmotiven zur Genesis. „Inzwischen wird es immer pompöser“, streicht der Rentner liebevoll über ein Blatt, das ein farbintensives Ikonenmotiv dominiert.

Gut zwei Stunden am Vormittag und ähnlich lange am Nachmittag widmet sich der gebürtige Hasper, der an der Enneper Straße groß wurde, seinem Präzisionshobby. Und das nicht nur, weil ihn die Konzentration seine chronischen Kopfschmerzen vergessen lässt, sondern vor allem aus Leidenschaft für Vergangenes: „Ich liebe alles Alte, ich liebe das Barock und auch die Musik dazu.“ Doch wenn er an seinem heimischen, mit einer kleinen Tischlampe illuminierten Schreibtisch arbeitet, tönen nicht etwa permanent stilechte gregorianische Choräle aus dem Radio – es dürfen durchaus auch mal Jazz-Rhythmen sein.

Eine zündende Idee

Jede Seite ist ein Kunstwerk. Foto: Michael Kleinrensing
Jede Seite ist ein Kunstwerk. Foto: Michael Kleinrensing © WP Michael Kleinrensing

Dabei zaubert Werner Oehl seine kunstvollen Arabesken, immer wieder garniert mit Sütterlin-Versen oder auch hebräischen Schriftzeichen („Die hat mir meine Tochter aus dem Internet besorgt, ich selber will gar keinen Computer haben“), nicht nur auf klassisches 180-Gramm-Papier, sondern ebenso auf Papyrus („Auf dem holzigen Untergrund ist es schwierig, zu schreiben“) oder Pergament. Da die beschreibbaren Tierhäute zu einem bezahlbaren Preis heute kaum noch zu bekommen sind, war Oehl einer Hasper Buchbinderei ausgesprochen dankbar, als diese ihm einige schadhafte Seiten aus einem Werk aus dem 17. Jahrhundert überließ. Daheim wusch er den Schmutz der Jahrhunderte aus den Blättern. „Die nassen Seiten fühlten sich wie feinstes Fensterleder an“, erinnert sich der 86-Jährige daran, wie er die einzelnen Stücke in Spannvorrichtungen zum Trocknen aufhing. Mit einer Glasscherbe wurde das Pergament wieder geglättet. „So lassen sich auch Schreibfehler wieder relativ bequem von dem Bogen entfernen.“

Dennoch schreibt der gelernte Dreher, der einst bei Wittmann in Haspe sein Geld verdiente, nicht einfach drauf los. Vor der Seitengestaltung muss zunächst eine zündende Idee her, die den neuen Entwurf von allem bereits Dagewesenen unterscheidet. „Bei mir gilt der Grundsatz, dass jede Seite anders aussehen soll. Denn viele Leute lesen heute nicht mehr, daher muss die Optik umso interessanter sein.“ Die dicke Bibel auf dem Schreibtisch dient als Inspiration für den nächsten Seitenentwurf. Reine Textanteile, kalligraphische Elemente und Tuscheskizzen sowie Aquarellzeichnungen sollen sich harmonisch zu einem Gesamtkunstwerk fügen. „Bis ich so ein E raushabe“, deutet Oehl auf den kunstvoll verschnörkelten Anfangsbuchstaben eines Psalms, „das dauert etwas, aber ich habe ja Zeit.“

Motive heimischer Gotteshäuser

Jede Seite wird mit Schrifttypen, Kalligraphie und Malerei unterschiedlich gestaltet.  Foto: Michael Kleinrensing
Jede Seite wird mit Schrifttypen, Kalligraphie und Malerei unterschiedlich gestaltet. Foto: Michael Kleinrensing © WP Michael Kleinrensing

Nach drei bis vier Tagen zeigt sich Oehl mit seinem Werk meist zufrieden und lässt die fertige Seite in den Schutzhüllen seiner Bibel-Sammelalben verschwinden. Die sichere Hand hat er sich während seiner Ausbildung beim Fachzeichnen angeeignet, den letzten Schliff holte er sich vor einem Vierteljahrhundert bei einem Kalligraphie-Kursus der Volkshochschule. Zahlreiche Kirchenbesuche („Im Petersdom in Rom hätte ich zehn Stunden sitzen können“) lieferten die Inspiration für die Illustrationen. So finden sich in Oehls Bibel auch Motive aus den heimischen Gotteshäusern wie das neugotische Bibelpult in der St.-Marien-Kirche, der Tabernakel aus St. Konrad Westerbauer oder ein Kirchenfenster aus der Andachtshalle des Rembergfriedhofs. „Auch im Urlaub habe ich mein Köfferchen mit Werkzeug immer dabei“, umschmiegt ein neutestamentarischer Bibelausschnitt zur Hinrichtung Jesu auf dem Berg Golgata eine filigrane Kreuzigungsdarstellung vom Wegesrand aus einem Alpenurlaub.

Von einer Reise nach Israel, um die Stätten im Heiligen Land hautnah inspizieren und vielleicht auch einmal die Geburtskirche in Betlehem (Westjordanland) besichtigen zu dürfen, träumt der 86-Jährige aus Sorge vor der dort herrschenden Gewalt dennoch nicht: „Ich kann nicht verstehen, dass Menschen sich heute noch auf eine so primitive Art auseinandersetzen“, kann Werner Oehl, der die Grausamkeiten des Krieges noch hautnah miterleben musste, nicht begreifen, dass die Friedenssaat des Weihnachtsfestes ausgerechnet dort bis heute nicht in den Köpfen der Menschen aufgeht.