Hagen. Nach der Aussage gegen die eigene Mutter starb die 17-jährige Sina im September. Ihre Mutter wird beschuldigt, sie einem jahrelangen Martyrium ausgesetzt zu haben. Vor dem Landgericht Hagen wird nun der Prozess gegen Maike P. (38) und ihren Lebensgefährten Ralf J. (42) neu begonnen.

Als Sina P. im September vor dem Amtsgericht Hagen ihr Martyrium schilderte, musste die Verhandlung unterbrochen werden, weil eine Schöffin einen Weinkrampf hatte. Sina, die endlich den Mut gefunden hatte, ihre Mutter (38) anzuzeigen, berichtete von den jahrelangen Misshandlungen, den Schlägen auf den Rücken, die Beine, den Po, ins Gesicht, vorzugsweise mit einem Kochlöffel, einem Gürtel oder Hosenträger. Manchmal sei sie so lange geschlagen worden, bis der Löffel zerbrach. Sie berichtete, dass sie im Keller schlafen musste, auf dem Fußboden oder in der Dusche, zur Strafe, weil sie eingenässt hatte. Zum elften Geburtstag bekam sie eine Packung Windeln geschenkt. Über weitere erniedrigende Details schweigen die Ermittler aus Gründen des Opferschutzes. Sinas Leben war ein Leben voller Demütigungen.

Das Mädchen erlitt zwei Tage nach der Aussage gegen die eigene Mutter einen Asthmaanfall und fiel ins Koma. Wenig später verstarb Sina P. im Alter von 17 Jahren im Klinikum Münster. Freunde berichten, sie habe sich seit Jahren auf den Prozess vorbereitet, auf die Aussage gegen die eigene Mutter. Fast scheint es, als habe sie diese eine Aufgabe noch erfüllen wollen, als wollte sie nur noch dies zu Ende bringen.

Prozess jetzt vor dem Landgericht

Der erste Prozess vor dem Amtsgericht war nach dem Tod des Mädchens abgebrochen worden: „Wegen der zu erwartenden hohen Strafen, die die Strafgewalt des Amtsgerichts übersteigen”, so Pressedezernent Till Deipenwisch. Das Verfahren gegen ihre Mutter und deren Lebensgefährten (42), beide angeklagt wegen der Misshandlung Schutzbefohlener und gefährlicher Körperverletzung, wird am Freitag neu aufgerollt. Den Angeklagten droht eine Strafe zwischen 1 und 15 Jahren. Wegen des zu erwartenden Strafmaßes wird diesmal vor dem Landgericht verhandelt. Angesetzt sind sechs Verhandlungstage vor der Jugendschutzkammer unter Vorsitz von Richterin Heike Hartmann-Garschagen.

Selbst hartgesottene Justizvertreter hat das Ausmaß der körperlichen und psychischen Gewalt, der Sina P. zeitlebens ausgesetzt war, erschüttert. „Das Kind ist fast täglich massiv misshandelt worden”, so Oberstaatsanwalt Münker.

Jugendamt wusste über brutale Erziehungsmaßnahmen Bescheid

Miriam Schmidt, die Schwester der angeklagten Mutter, glaubt, dass Sinas Asthmaerkrankung eine Folge der Schläge und Erniedrigungen ist. Schon als Kind sei ihre Nichte drakonisch bestraft worden: „Einmal hat sie sich ein Stück Kuchen genommen. Für meine Schwester war das Diebstahl. Sina bekam Prügel und sechs Wochen Hausarrest.” Manchmal sei der Körper des Mädchens mit blauen Flecken übersät gewesen.

Dem Hagener Jugendamt lagen bereits 1998, als Sina sechs Jahre alt war, Hinweise auf die „übergebührlich harten Erziehungsmaßnahmen” vor. Schnell habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Kind von der Mutter getrennt werden musste, so Reinhard Goldbach, stellvertretender Leiter des Jugendamtes. Es folgten wechselnde Aufenthalte in Heimen und zu Hause, bis das Amtsgericht auf Anraten eines Gutachters, jedoch gegen die ausdrückliche Stellungnahme des Jugendamtes, entschied, Sina solle wieder bei Mutter und Stiefvater wohnen. So wurde sie weiterhin misshandelt, bis sie selbst darum flehte, man möge sie in einem Heim unterbringen.

Ihre Freunde haben Sina ein Lied gewidmet

Sina besuchte eine Gesamtschule, war eine ordentliche Schülerin. Ihre Freunde haben ihr ein Lied gewidmet. Nach dem Sportunterricht zog sie sich in der Toilette um, damit die anderen Kinder die blauen Flecken nicht sahen. Fotos zeigen ein hübsches, fröhliches Mädchen. In ihrem Inneren sah es anders aus. Zuletzt hielt sie es nicht in geschlossenen Räumen aus, litt unter Panikattacken und Platzangst. „Einmal hat sie gesagt, sie wolle nicht mehr leben”, berichtet ihre Tante. „Sie sagte: Ich kann nun nicht mehr.”

Sina habe einen zurückhaltenden, verschüchterten Eindruck gemacht, erinnert sich auch Michael Haack, Karatelehrer beim Verein Budokan Hagen, in dem das Mädchen und ihr jüngerer Bruder eine Zeitlang trainierten: „Sie suchte keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Da war eine nie zu überwindende Barriere.” Einmal sei sie mit einer Messerwunde am Arm erschienen. Sie habe sich beim Abräumen des Mittagstisches verletzt, erklärte sie. Nach und nach fand er heraus, dass das Mädchen zu Hause für das Benehmen ihres verhaltensauffälligen Bruders verantwortlich gemacht wurde.

Endlich fand sie die Kraft, ihre Mutter anzuzeigen

Haack sprach die Mutter auf die Vorfälle an, die ihn daraufhin angeschrieen und bedroht habe. Er sprach mit der Lehrerin des Bruders, die habe auch nicht weiter gewusst. Er wandte sich an den Karate-Verband, von dort erhielt er keine Antwort. Schließlich hätten die Geschwister, mit Rücksicht auf die anderen Kinder, den Verein verlassen müssen. Als er von Sinas Prozess und Tod erfuhr, wurde Haack manches klar: „Ich ahnte, dass sie sich in Nöten befand. Aber so etwas. . .”

Zwei Jahre, nachdem sie auf eigenen Wunsch in ein Heim kam, fand Sina den Mut und die Kraft, ihre eigene Mutter anzuzeigen. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber das stimmt nicht.