Hagen. Es ist eines der besondersten Naturschauspiele, die Hagen zu bieten hat. Und damit hörens- und erlebenswert für jeden Hagener. Eine Empfehlung.

Wann erwacht diese Stadt?Wo erwacht diese Stadt? Wenn die Zeitungsboten in früher Nacht durch die Straßen laufen? Wenn in den Bäckereien der erste Teig geknetet wird? Wenn die ersten Autos über den Emilienplatz rollen? Ja, alles ein Ausdruck des Erwachens, des Aufbrechens. Doch hier, in stockfinsterer Nacht, die die Hand vor Augen nicht erahnen lässt und dem Menschen zeigt, dass er nur Gast in einem Lebensraum ist, in dem sich selbst der schwächste Bewohner zigtausendfach besser zurechtfindet als er, ist das Erwachen ein Ritual in seiner natürlichsten Reinform. Wenn der Hagener Wald erwacht. Morgens um exakt 5.03 Uhr. Eine besondere Hörprobe, die die Redaktion bereits 2015 mit Vogelkundler Timothy Drane im Fleyer Wald nahm und die wir gerne aus dem Archiv hervorholen.

Wir atmen beide durch die Nase. Das ist in diesem Augenblick das Einzige, was man auf der Aufzeichnung des Termins hören kann.

Langsam.

Und tief.

Ein stetiger Rhythmus

Plötzlich, ganz unwillkürlich, zieht die Muskulatur der Ohren die Ohrmuscheln hoch. So, wie sie es tut, wenn man in tiefer Nacht ganz allein in seinem Haus ist und in der unteren Etage plötzlich jemanden zu hören glaubt.

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Und dann: erste hohe Töne. Immer gleich. Ein stetiger Rhythmus

.Ich drücke den Licht-Knopf meiner Uhr. 5.03 Uhr mitten im dunklen Fleyer Wald. Kein Straßenlärm, kein Licht, kein Grundrauschen der Großstadt. Das Rotkehlchen beginnt mit seinem Gesang.

Timothy Drane könnte in seinem nächsten Leben auch Luchs werden. Die feinsinnigen Ohren dazu hätte er. Der 68-jährige Brite, der seit 40 Jahren in Hagen lebt, flüstert mit seinem englischen Akzent in die Nacht: „Ist das nicht wunderschön?“

Der „Dawn-Chorus“

Wahrhaftig, das ist es. Es ist der erste Ton, den der Fleyer Wald an diesem nassen Morgen hervorbringt. Von dem schleichenden Gang größerer Wildtiere, die man in der Dunkelheit nicht sehen, aber auf dem Waldboden hören kann, mal abgesehen. Drane, ein ehemaliger Ingenieur und schon immer passionierter Vogelkundler, benutzt einen englischen Begriff für das erste, immer intensiver werdende Konzert in der Luft: „Dawn-Chorus.“ Der Chorus des Sonnenaufgangs.

Ornithologe durch und durch: Timothy Drane mit seinem Fernglas.
Ornithologe durch und durch: Timothy Drane mit seinem Fernglas. © Michael Kleinrensing

Bis die Sonne aufgeht, wird noch eine Stunde vergehen. Am Polizeipräsidium an der Hoheleye, wo wir uns getroffen hatten, gaukelt die kühle Beleuchtung den Vögeln in den Bäumen aber bereits vor, dass es Tag wäre. „Lichtverschmutzung nennen wir das“, sagt Drane. Die Vögel dort singen bereits, während 500 Meter weiter im Wald, in der Dunkelheit, nahezu Ruhe herrscht.

„Schaut, wie schön ich bin“

Drane lauscht noch dem Rotkehlchen, das mit seinem Gesang, wie viele andere Vögel des Waldes, zwei Dinge zum Ausdruck bringen möchte. Erstens: Ich bin hier, das ist mein Territorium. Und zweitens: Schaut, wie schön ich bin. Wer will mit mir ein Nest bauen?

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Ich bin gerne im Wald. Ich genieße gern die Stille hier, atme die Luft, die sich im Vergleich zur Innenstadt in den Lungen um ein Vielfaches klarer und kraftvoller anfühlt. Der Gesang aus den Baumkronen war bislang zwar wunderschön für mich, aber doch ein phonetischer Klumpen, der mich nie erahnen ließ, wie viele unterschiedliche Vogelarten in diesem Orchester musizieren.

Das erste Dirigat

Und erst recht habe ich nie den Moment erlebt, in dem der erste Vogel das Dirigat übernimmt. „Es wird mehr, hören Sie?“ Ja, denn jetzt ist der Zilpzalp wach geworden. Sein Name ist Lautmalerei. Zilp-zalp-zelp-zilp-zalp.

Es beginnt zu regnen, doch die Tropfen erreichen unsere Köpfe nicht. Das dichte Blätterdach des Waldes fängt sie ab.

Während es so langsam zu dämmern beginnt und aus dem tiefen Schwarz der Nacht ein Grau wird, das die Umrisse von Bäumen und die Abgrenzung des Weges sehen lässt, hört man, wie sich einige hundert Meter weiter die Reifen eines Autos über die regennasse Fahrbahn wälzen. „Ich habe den Kon­trast noch nie so stark erlebt wie heute“, sagt Drane, der Vorsitzender des Vogelschutzes in Hagen und Herdecke ist.Weitere Töne dringen unter seinem Hut an seine Ohren.

Der Zaunkönig erscheint

Zwei weitere Vögel betreten die Bühne. Amsel und Mönchsgrasmücke. Die Amsel hören wir deutlicher, weil wir Richtung Waldrand an eine Lichtung gegangen sind, wo sie sich auf den niedrigeren Bäumen aufhält. 5.26 Uhr: Meisen und Singdrosseln erwachen. Und der Zaunkönig. Sie trällern, singen, musizieren. Der „Dawn-Chorus“ hat seinen Höhepunkt erreicht.

Zu keinem Zeitpunkt des Tages werden die Vögel des Waldes mehr so intensiv miteinander und gegeneinander singen wie jetzt. Der letzte Vogel betritt die Bühne„Ping, ping, ping“. Der Vogel, der sich auf den letzten Drücker hastig ins Morgenkonzert einschleicht, so als wenn er den Bus verpasst hätte und zur ersten Unterrichtsstunde dem Lehrer japsend seine Entschuldigung vorträgt, ist der Buchfink.

Timothy Drane erkennt die Vögel am Gesang, weiß genau, zu welcher Uhrzeit welcher Vogel das Morgenkonzert betritt.
Timothy Drane erkennt die Vögel am Gesang, weiß genau, zu welcher Uhrzeit welcher Vogel das Morgenkonzert betritt. © WP Michael Kleinrensing | Michael Kleinrensing

Eine besondere Botschaft

Schade, dass man ihn nur hören, nicht sehen kann. Denn er ist farbenprächtig. Ich könnte ewig schreiben über die ornithologischen Hintergründe, die ich in über einer Stunde mit Timothy Drane gelernt habe. Über die Faszination des Vogelzugs, den inneren Kompass, der 20 oder 30 Gramm leichte Vögel auf Flugreisen nach Afrika oder Skandinavien führt. Für mich ist das so, als wenn ich zwei Marathons an einem Tag laufen müsste. Ich könnte über Brutzeiten schreiben, Paarungsverhalten, über gefährdete und weit verbreitete Singvögel.

Ich will den Gang in den Wald mit Timothy Drane aber für eine andere Botschaft nutzen. Für den Respekt vor einem Millionen Jahre alten Ritual der Natur, das den Zauber des Erwachens jeden Morgen aufs Neue entfacht. Hier, in den vielen Wäldern, die unsere Stadt umschmiegen, können wir das jeden Tag aufs Neue erleben.

Das ist ein Schatz. So kostbar wie jedes liebliche Lied, das an diesem nassen Morgen die Kehlen der heimischen Singvögel verlassen hat.