Hohenlimburg. 27 Geflüchtete aus der Ukraine haben Zuflucht gefunden in einer Villa der Firma Wälzholz in Hohenlimburg. Sie hoffen, sie können bald zurück

Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihre Wohnung sofort verlassen ohne zu wissen, ob Sie je zurückkommen. Was würden Sie einpacken?

Eine Frage, die hierzulande nicht mehr als ein Gedankenspiel ist, stellte sich für Irina ganz real. Bis vor rund zwei Wochen lebte sie noch in Krementschuk, einer Stadt im Zentrum der Ukraine, nicht viel größer als Mainz. Sie arbeitete als Journalistin. An ihrem ersten Arbeitstag fielen russische Truppen in der Ukraine ein, und Irina musste über Raketenbeschuss auf Städte in ihrer Heimat berichten. Ihr Land war plötzlich im Krieg.

Zuflucht in Hohenlimburg

„Als ich sah, dass Universitäten brannten und Raketen auf öffentlichen Plätzen einschlugen, da wurde mir klar, dass sie nicht nur militärische Ziele angreifen“, sagt Irina. Sie hatte Angst, dass die Raketen auch ihre Stadt, ihre Wohnung, ihre beiden Kinder treffen könnten – und packte die Sachen.

Was hat sie eingepackt? „Meine Papiere, meinen Laptop, meine Kreditkarte – und Kekse“, sagt sie und lächelt. Heute kann sie von den Erlebnissen erzählen mit der Gewissheit, dass sie in Sicherheit ist. Gemeinsam mit 25 weiteren Geflüchteten haben Irina und ihre Kinder Schutz gefunden in einer Villa in Hohenlimburg. Genauer: Einer Villa der Firma Wälzholz, 1882 erbaut, drei Geschosse, von dem Unternehmen hergerichtet als Zufluchtsort für Geflüchtete aus den Kriegsgebieten der Ukraine.

Hilfskonvoi von der Grenze

Ein Hilfskonvoi des Busunternehmens Hausemann und Mager hatte die Gruppe mit weiteren Geflüchteten an der polnisch-ukrainischen Grenze aufgenommen. Der Ex-Wasserballer Vadim Plotnikov hatte über einen früheren Teamkollegen den Kontakt hergestellt, an der Grenze fügten sich viele einzelne Schicksale zusammen und fuhren gemeinsam im Bus nach Hagen. Gut ein Dutzend Frauen mit ihren Kindern und ein älterer Mann.

Sie alle haben ähnliches erlebt, wie es die Journalistin Irina beispielhaft berichtet. Bis vor zwei Wochen lebten sie ein normales Leben – oder das, was nach europäischen Maßstäben als solches gilt. Nun haben sie Zuflucht gefunden in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen und wo sie bis vor zwei Wochen gar nicht hinwollten. Aber der Krieg hat alles verändert.

Kontakt per Handy

Per Handy halten die Frauen Kontakt zu ihren Ehemännern. Viele haben sich freiwillig zum Kampf gemeldet, sind Soldaten oder Polizisten, was im aktuellen Kriegsgeschehen wohl kaum einen Unterschied macht. Ida ist 33 Jahre alt und kommt aus Kiew. Hinter zierlicher Statur verbirgt sich eine junge Mutter von zwei Kindern, die als Friseurin gearbeitet und hart gespart hat, wie sie erzählt. Mit ihrem Mann kaufte sie sich eine Wohnung in Kiew, wollte bald auf Reise durch Europa gehen. Nun sind sie getrennt, der Mann blieb in Kiew zurück. Er ist Polizist.

Zuflucht im fremden Land

„Es geht ihm soweit gut“, sagt Ida, „wenn nicht die Bomben wären.“ Bisher sei ihre Wohnung nicht getroffen worden, sagt Ida. Sie wirkt gefasst, zeigt sich dankbar für die Hilfsbereitschaft und Unterkunft in diesem Land, das sie zuvor nie besucht hat und dessen Sprache ihr so fremd ist. Es wäre falsch, Geflüchtete wie Ida oder Irina als verzweifelt und hoffnungslos zu beschreiben. Vielmehr herrscht in der Villa Wälzholz aktuell quirliges Treiben, ähnlich den ersten Abenden einer Klassenfahrt. Es mag Verdrängung sein, Aufregung oder Adrenalin­. Es kann aber auch von einem Optimismus zeugen, der von diesen Menschen ausgeht.

Zwei Wochen, nachdem in ihrer Heimat der Krieg ausgebrochen ist, haben sie die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Kämpfe noch nicht verloren. Wie lange der Krieg wohl noch dauert? „Ich rechne mit ein paar Monaten“, sagt die Journalistin Irina. Wenn die Waffen schweigen, dann wolle sie sofort zurück und ihr Land wieder aufbauen helfen. „In die ferne Zukunft schaue ich zurzeit nicht.“

„Müssen Perspektiven geben“

Je mehr Geflüchtete in Hagen ankommen, desto mehr drängt die Frage, wie es mit diesen Menschen weitergeht. „Wir müssen ihnen Perspektiven geben“, sagt Vadim Plotnikov, der gemeinsam mit Tanja Sturm den Hilfskonvoi von Hause­mann und Mager mit organisiert und begleitet hat. In der Villa Wälzholz lebten die Geflüchteten gut, würden versorgt und psychologisch betreut. „Aber irgendwann wird das nicht mehr reichen“, appelliert Plotnikov, vorausschauend zu agieren. Erfahrungen aus der Zeit, als tausende Geflüchtete aus Syrien kamen, werden wieder wach. „Diese Menschen wollen unbedingt die Sprache lernen und sie wollen arbeiten.“

Viele flüchten nach Polen

Der Hilfskonvoi bot 76 Plätze für Geflüchtete. Auf der Rückfahrt waren nur 49 Plätze belegt. „Viele wollten nicht so weit weg von ihrer Heimat“, sagt Plotnikov. In Polen konnten zudem die Kinder zur Schule gehen, Sprache und Mentalität seien nicht so fremd wie in Deutschland. „Wir haben sie aus Polen geholt, weil es hieß, sie könnten hier arbeiten und ihre Kinder in die Schule gehen“, sagt Plotnikov. „Das sind gut ausgebildete Menschen, sie können das Land bereichern.“ Man müsse ihnen die Chance bieten, sich zu integrieren, findet der Hohenlimburger.