Hagen. Unglaubliche Geschichte: Wegen eines Verfahrensfehlers wird die Verhandlung gegen einen Sexualstraftäter neu aufgerollt – mit geringerem Strafmaß.
Es war ein Flüchtigkeitsfehler des Gerichts. Doch das kleine Versäumnis hat nun große Folgen: Ein zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilter Kinderschänder könnte 33 Monate eher aus der Haft kommen. Der Bundesgerichtshof hat dem hartnäckigen Sexualstraftäter in der Revision dazu verholfen.
Die unglaubliche Geschichte beginnt im August 2014 in einer Wohnung in der Hagener Innenstadt. Dort lebt eine Frau mit ihren beiden Kindern und dort verkehrt auch der Angeklagte (heute 52), ein verheirateter Familienvater, regelmäßig.
Im Haushalt seiner Lebensgefährtin wohnt auch die Tochter (10), auf die es der Mann insgeheim abgesehen hat: Innerhalb von fünf Jahren, bis zu seiner Festnahme und Inhaftierung im Dezember 2019, soll sich der Angeklagte regelmäßig an dem Kind vergangen haben.
Beträchtliche Strafe für Angeklagten
Die sexuellen Handlungen des Angeklagten stufte die Jugendschutzkammer des Landgerichts, die diese Fälle im vergangenen Jahr verhandelte, als so schwerwiegend ein, dass sie die beträchtliche Strafe von neun Jahren und sechs Monaten Gefängnis verhängte.
Mit der Urteilsverkündung am 23. Juni 2020, so schien es, war der juristische Schluss-Strich unter das üble Verbrechen gezogen. Da konnte man noch nicht damit rechnen, dass der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz später das Urteil komplett aufheben würde: Während der mehrtägigen Beweisaufnahme war der Hagener Jugendschutzkammer nämlich ein Verfahrensfehler passiert, den zunächst niemand im Gerichtssaal bemerkt hatte. Aber den Rechtsanwalt Andreas Trode (Iserlohn) herausfand und erfolgreich vor den hohen Richtern in Karlsruhe rügte.
Was war passiert? Der Angeklagte hatte sein aktives sexuelles Vorgehen und die Vergewaltigungen bestritten. Das zunächst zehnjährige Mädchen hätte ihn seinerzeit „in Lolita-Manier regelrecht verführt“. Ein Geständnis sieht anders aus.
So war das Gericht gezwungen, das Opfer als Zeugin vernehmen zu müssen. Zum Schutz der Intimsphäre der inzwischen 15-Jährigen wurde während ihrer Vernehmung nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch der Angeklagte selbst von der Verhandlung ausgeschlossen und aus dem Gerichtssaal geführt.
Das ist gesetzlich so zugelassen, wenn die direkte Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter zu einer Retraumatisierung des Opfers führen könnte. Allerdings muss nach Abschluss der Opfer-Vernehmung dem Angeklagten, der in den Gerichtssaal zurückkehren durfte, genaustens berichtet werden, was während seiner Abwesenheit die Zeugin ausgesagt hat – und sonst noch erfolgt ist.
Richter vergisst eine Winzigkeit
Das hatte der Vorsitzende Richter Jörg Weber-Schmitz dem Angeklagten auch umfassend geschildert und dabei eine Winzigkeit vergessen zu erwähnen: Dass der Verteidiger auch kurz seine Akte hochgehalten hatte, um der Zeugin ein Foto zu zeigen. Der Bundesgerichtshof erkannte darin „einen Verstoß gegen die Rechte des Angeklagten“ und hob deshalb dessen Verurteilung zu neuneinhalb Jahren komplett auf und ordnete die vollständige Neuverhandlung vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts an.
„Nunmehr hätte die junge Geschädigte ein zweites Mal die Tortur einer Vernehmung vor Gericht durchleiden müssen“, beklagt Opfer-Anwalt Ihsan Tanyolu (Dahl), der dafür überhaupt kein Verständnis hat: „Die Jugendliche ist bis heute jede Woche beim Therapeuten.“
Diesmal hat der Angeklagte jedoch ein Geständnis abgelegt, sodass die Geschädigte nicht noch einmal aussagen muss.
Für das Geständnis hat ihm die Kammer, in Absprache mit Staatsanwältin und dem Verteidiger, einen kräftigen Strafrabatt eingeräumt: Statt der ursprünglichen neuneinhalb Jahre Gefängnis soll das neue Strafmaß um die sieben Jahre Haft betragen.