Hagen. Henri Matisse ist schockiert. Incroyable, diese Hagener! Der französische Maler besichtigt 1908 die neueste Attraktion: das Krematorium.
Henri Matisse ist schockiert. Incroyable, diese Hagener! Der große französische Maler besucht 1908 den berühmten Kunstpionier Karl Ernst Osthaus in dessen Heimat und besichtigt die neueste Attraktion der Stadt, die in jenen Jahren zum Labor der modernen Architektur wird. Osthaus hat den Baumeister Peter Behrens dafür gewonnen, ein Krematorium zu bauen, also ein Funktionsgebäude völlig neuen Typs.
Gestern: Hagener strömen in Scharen zum Monument nach Delstern
Bei der Fertigstellung des Gebäudes im Jahr 1908 ist die Feuerbestattung in Preußen noch nicht erlaubt. Dennoch strömen die Hagener in Scharen zu dem Monument in Delstern. Man kann es besichtigen, das kostet 50 Pfennige Eintritt. Matisse zahlt und staunt.
Denn die Menge bewundert nicht die kunstvolle Innenraumgestaltung und das prachtvolle Mosaik. Die Hagener wollen jene neuartige technische Apparatur besichtigen, mit der sich der Katafalk in der Apsis herauf- und herunterfahren lässt. Immer wieder versinkt der Katafalk vor den Schaulustigen im Untergeschoss und steigt wieder auf. Matisse kann das nicht verwinden. Zurück in Paris berichtet er brieflich von den sonderbaren Sitten der Hagener, die sich zum Sonntagsvergnügen gegen Bezahlung eine Leiche vorführen lassen, die gar keine ist. Erst am 20. Mai 1911 wird in Preußen der „Gesetzentwurf betreffend Feuerbestattung“ mit knapper Mehrheit verabschiedet. Das erste preußische Krematorium kann in Hagen seinen Dienst aufnehmen. Bis dahin haben bereits 30.000 Besucher das außergewöhnliche Baukunstwerk gegen Eintrittsgeld besichtigt.
Heute: Ein Ort für Abschiede
In den explosiv wachsenden jungen Industriestädten des Ruhrgebiets werden die Friedhöfe zu klein. Sie können auch nicht mehr bei den Kirchen liegen, mitten in der Stadt, wie bisher. Außerdem kehren sich viele Bürger von den Kirchen ab und werden sogenannte Freidenker. So entsteht unter anderem aus hygienischen Erwägungen das Konzept der Feuerbestattung. Karl Ernst Osthaus gehört zu den Initiatoren des Hagener Feuerbestattungsvereins, der den Architekten Peter Behrens mit der Aufgabe betraut, ein Krematorium zu bauen.
Im Mittelpunkt der Anlage steht die Trauerhalle. Sie soll für alle Menschen ein Ort des würdevollen Abschiednehmens sein, für Katholiken, Protestanten, aber auch für Freidenker. Das überkonfessionelle Konzept der Zeit um 1900 geht auf. Heute wird die Trauerhalle auch von den muslimischen Gemeinden genutzt. Peter Behrens wählt für die Andachtshalle den Typ der vorchristlichen Basilika mit Langhaus, Galerien und Apsis.
Der Entwurf für das Mosaik stammt von Emil Rudolf Weiss. „Behrens und Osthaus haben lange darüber nachgedacht, was man als ikonografische Motive nehmen kann. Die Figuren und Ornamente sollten keinen direkten religiösen Bezug haben und trotzdem Transzendenz vermitteln“, erläutert Dr. Birgit Schulte, die Kustodin des Hagener Osthaus Museums.
Im Zentrum des Mosaiks befindet sich ein Adorant, eine Figur, die mit erhobenen Händen jemanden oder etwas anbetet. Sie wird flankiert von einer träumenden und einer wachenden Figur. Birgit Schulte: „Jedes Detail der Inneneinrichtung ist gestaltet. Selbst die Lampen sind im typischen Kreis-Quadrat-Motiv gehalten.“
Morgen: Neue Bestattungsformen
Viele neue Formen der Bestattung und des Trauerns sind in den vergangenen Jahrzehnten zu den klassischen Beerdigungsriten hinzugekommen. Auf den Hagener Friedhöfen können Menschen nicht mehr nur in einem Gab die letzte Ruhe finden.
Besonders gefragt sind Grabstätten ohne Pflegeaufwand. Es gibt einen Ewigkeitsbrunnen, „das ist ganz etwas Neues“, so Martin Kümper, Fachleiter Friedhofsunterhaltung bei der WBH.
Dazu kommen Andenkenstelen, Rasengräber, die Urnengemeinschaftswand, das Aschestreufeld, das Waldgrab, der Ruheforst und das muslimische Grabfeld. In neuerer Zeit ist das Sternenkinderfeld hinzugekommen.
Dabei handelt es sich um eine Grabstätte mit besonderem Symbolcharakter für Sternenkinder, also Fehl- und Totgeburten. „Hier finden die Eltern einen Ort für ihre Trauer“, schildert Martin Kümper.