Hagen. Nach der OB-Wahl 2020 tritt Ingo Hentschel für die Linken jetzt auch für den Bundestag an. Grund genug für eine Runde auf dem Drei-Türme-Weg.
Er weiß, dass er nerven kann, dass er impulsiv ist und dass seine Penetranz den politischen Gegner manchmal gar zur Weißglut treibt. „Ich brenne für Themen“, macht Ingo Hentschel seine grundsätzliche Haltung bei der politischen Arbeit deutlich, „aber ich werde bei meinen Attacken nie persönlich“, so seine Selbsteinschätzung. Der Sprecher der Ratsgruppe der Linken im Hagener Rat blickt in diesen Wochen und Monaten allerdings nicht bloß auf das lokale Parkett. Bis zur Bundestagswahl am letzten September-Wochenende wird er als Direktkandidat seiner Partei um das Vertrauen für ein Bundestagsmandat werben. Dabei dürfte er sicherlich auch wieder kämpferische Töne im politischen Diskurs mit den Mitbewerbern anstimmen. Doch beim Spaziergang mit der Stadtredaktion über den Hagener Drei-Türme-Weg, zu dem der Hundefreund die etwas beleibte Labrador Dame „Mina“ mitbringt, gibt sich der 58-Jährige eher gelassen, verbindlich und in sich ruhend.
Unsere ersten Schritte führen die Wendeltreppe steil hinauf auf die Aussichtsplattform des Kaiser-Friedrich-Turms. Die Fernsicht an diesem Juli-Vormittag eröffnet den Blick von den Höhen des Sauerlandes bis zum Dach der von ihm so geschätzten Schalke-Arena in Gelsenkirchen. Der Weg die Stufen hinauf lässt Ingo Hentschel schwer durchschnaufen. Hier muss der passionierte Hagener, der bereits einen Herzinfarkt in den Knochen und seiner Seele stecken hat, seiner ungebremsten Raucher-Leidenschaft Tribut zollen. „Ich habe noch nie versucht aufzuhören“, räumt der Linken-Kandidat ganz ohne Reue ein.
Zwischen Zigaretten und Astrologie
Während unserer Runde durch den Wald wird er sich unverfroren gleich dreimal (Ob er’s überhaupt bemerkt hat?) eine Fluppe anzünden. „Das ist eine Charakterschwäche“, reflektiert er sich selbstkritisch. „Ich kann mich durchaus gut einschätzen.“ Selbst nach seiner Attacke gepaart mit akuten Todesängsten hat er keinen Gedanken an eine Zigaretten-Abstinenz verschwendet, „denn am Tag nach meinem Infarkt ging es mir wieder gut“. Ohnehin gibt sich Hentschel als ein Mensch, der vorzugsweise seinem Bauchgefühl folgt. „Ab und zu lese ich auch Horoskope“, bekennt der im Sternzeichen-Schütze geborene Astrologie-Laie: „Wenn es gut ist, glaube ich dran, wenn nicht, juckt mich das nicht.“
Dass er nach seinem Schulabschluss ausgerechnet den eher klassischen Job des Bürokaufmanns ergriff, war seinerzeit seiner angeschlagenen gesundheitlichen Konstitution geschuldet. „Ich habe schnell gemerkt: Ein Job mit Anzug und Krawatte – das ist nicht meins. Da waren die späteren Malocher-Jobs – beispielsweise in einer Gießerei in Vorhalle – eindeutig die bessere Wahl.“
Gleichzeitig führte ihn diese berufliche Welt hin zum sozialen Engagement und damit in die Politik. „Jahrelang war ich SPD-Wähler. Ich hätte mir nie vorstellen können, was anderes zu wählen – das hat sich aber längst erledigt“, winkte er seinerzeit ab, als er von den Genossen angesprochen wurde, sich im Behindertenbeirat für die Sozialdemokratie zu engagieren. Stattdessen führte sein Weg über die WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit) zu den Linken. Dabei fühlte er sich weniger dem PDS-Flügel oder gar der SED-Vergangenheit der Partei nahe.
Mensch steht Utopie im Weg
„Wirklich gelebter Sozialismus – was es nie geben wird – ist eine optimale Lösung“, lautet dennoch seine Überzeugung und sein politisches Glaubensbekenntnis. Wohl wissend, dass der Faktor Mensch dieser Utopie im Wege steht. „Ich stehe voll hinter dem Grundgedanken, aber er ist nun einmal nicht praktikabel. Zumal: Um Sozialismus machen zu können, braucht man massiven Kapitalismus um es zu finanzieren“, beschreibt er das politische Dilemma und gibt sich keinen romantischen Politik-Illusionen hin.
Seine ganz persönliche Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustandes lautet: „Wir befinden uns in einer katastrophalen Phase. Gewinne werden privatisiert und Verluste immer mehr sozialisiert. Daher bin ich auch froh, dass es jetzt das internationale Bündnis gibt, das die Großkonzerne besteuern will“, philosophiert hier ein Mann über Global Economy, der bislang vorzugsweise auf dem lokalen Parkett politisch von sich hören lässt.
Zusammen mit seiner Ehefrau Elke repräsentiert er in der zweiten Wahlperiode die Linken im Hagener Rat. Dabei fühlt er sich in der ersten Reihe dieses Gremiums durchaus wohl, vernimmt aber auch durchaus die Kritik, das Linken-Politik in Hagen eine reine Hentschel-Familienangelegenheit sei. „Wir haben zwar viele junge Mitglieder, darunter auch Frauen, aber diese zieht es nicht in die erste Reihe.“ Dabei hegt er wenig Zweifel an seiner persönlichen hervorgehobenen Rolle, zumal er gerade erst mit hundertprozentiger Rückendeckung von seiner Partei zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl nominiert wurde.
Gleichzeitig betont er, dass er mit seiner Frau politisch keineswegs immer mit einer Zunge spreche. Der politische Diskurs am heimischen Küchentisch bedeute nicht automatisch Konsens: „Ich habe zu Hause oft Gegenwind, und das ist nicht immer einfach bei Kontroversen.“
Den Linken mehr Gehör verschaffen
Mit Blick auf das Berlin-Mandat gibt er sich keiner Illusion hin, dass sein Weg direkt in den Bundestag führen könnte: „Aber eine solche Kandidatur hilft durchaus, der Sache der Linken mehr Gehör zu verschaffen.“ Dabei ist sein oberstes Credo, für mehr gesellschaftliche Toleranz einzustehen. Gleichzeitig liegt der Kampf gegen Rechts ihm sehr am Herzen: „Wenn ich mir angucke, was heute öffentlich gesagt wird – auch in Parlamenten und Medien – sind das Dinge, für die man vor wenigen Jahren noch vor den Kadi gekommen wäre“, kritisiert er eine politische Kultur, die inzwischen salonfähig geworden sei, die er so nicht tolerieren wolle. „Mit diesem Plattitüden wird versucht, eine gewisse Stimmung zu erzeugen.“
Zur Person
Ingo Hentschel ist am Vorabend des Nikolaus-Tages im Jahr 1962 in Hagen geboren worden. Das bekannteste Gesicht der Hagener Linken ist verheiratet und Vater einer Tochter (27) sowie eines Sohnes (29).
Nach seinem Schulabschluss an der Hauptschule Wehringhausen lernte der heutige Gruppen-Geschäftsführer der Hagener Linken im Rat den Beruf des Bürokaufmanns beim Berufsförderungswerk in Dortmund. Im Anschluss verdiente er sein Geld in verschiedenen Jobs als Malocher sowie als Selbstständiger im Brandschutz.
Derzeit bestreitet er seinen Lebensunterhalt durch seine Tätigkeit für die Ratsgruppe sowie als Mandatsträger im Hagener Rat für die Linken.
Darüber hinaus möchte er auf dem Deutschland-Parkett für eine vernünftige und gleichmäßige Besteuerung aller Unternehmen kämpfen: „Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Ich bin überzeugt: Wenn jeder regulär seine Steuern zahlen würde, könnten wir nicht bloß die Steuern für alle senken, sondern bekämen auch alles finanziert und wären nicht in einer so maroden Situation wie heute.“ Dass damit auch ein Großteil der Linken-Themen wegbrechen würde, betrachtet er gelassen und könnte Hentschel auch nicht grämen: „Denn dann würden wir in einer Gesellschaft leben, in der es sich lohnt zu leben.“
Im Privatleben schenkt Ingo Hentschel seine Empathie vorzugsweise seinem Oldtimer, einem Ford Streifen-Taunus 12M. „Wenn ich mit 60 noch so schnell den Berg hoch komme wie der, bin ich zufrieden. Zwar ist der Wagen das ganze Jahr über angemeldet, doch ich fahre ihn tatsächlich nur bei Sonnenschein.“ Ohnehin schlägt das Herz des 58-Jährigen für Schönes und Bewährtes aus der Vergangenheit. So nennt er eine amerikanische Music-Box aus dem 50er-Jahren der Marke Seeburg HF100R sein eigen – mit offenem Plattenteller unter Glasdom und dekorativer Chrom-Front. Hier dudeln, ähnlich wie in seinem betagten Auto, vorzugsweise Oldies, bekennt der leidenschaftliche Schalke-Fan.
Traum von der Meisterschaft lebt
Eine Fußball-Passion, die ihm zuletzt allerdings wenig Freude beschert hat, zumal er aus einer schwarz-gelben Familie stammt. Hier bricht bei ihm seit Kindheitstagen durchaus ein wenig sein Revoluzzer-Gen durch. „Ich hatte zuletzt allerdings wenig zu lachen“, blickt er mit leidender Stimme auf den Abstieg zurück. „Ich habe mir oft verkniffen, an Bundesligaspieltagen meine Brüder zurückzurufen.“ Denn noch lebt in ihm der Traum aller Schalker: „Ich will noch eine Meisterfeier miterleben.“
Doch zunächst liegt sein Fokus eindeutig auf der Bundestagswahl. „Mit 15 Wahlkampfterminen habe ich zurzeit bereits mehr Veranstaltungen in meinem Kalender stehen als zuletzt bei der Oberbürgermeisterwahl in Coronapandemie-Zeiten“, erzählt der Oberhagener. Und dabei sind Anfragen aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis noch gar nicht bei ihm eingetrudelt. Vor diesem Hintergrund hegt er derzeit auch keine Urlaubspläne, die ihn zusammen mit seiner Frau meist an die Strände des Mittelmeers führen. „Hauptsache warm“, lautet sein wichtigstes Urlaubs-Kriterium. Bis dahin stehen höchstens noch Städte-Kurztrips auf seinem Freizeit-Programm – gerne mit dem Oldtimer.