Hagen. SIHK-Hauptgeschäftsführer Ralf Geruschkat wirbt dafür, kreativ und pragmatisch mit Wirtschaft und Handel aus der Corona-Krise herauszustarten.
Seit einem Jahr diktiert die Corona-Pandemie nicht bloß den Rhythmus der Menschen, sondern auch der Wirtschaft. Die Südwestfälische Industrie- und Handelskammer begleitet die Betriebe kontinuierlich durch den Dschungel an Nachrichten und Anträge. Wir haben Hauptgeschäftsführer Ralf Geruschkat zur aktuellen Lage und künftigen Themen befragt.
Frage: Macht der Job des SIHK-Hauptgeschäftsführers nach den Monaten der Corona-Pandemie Sie auch „mütend“ – also eine Mischung aus müde und wütend –, weil Sie es nur noch mit Klagen und Pessimismus zu tun haben?
Ralf Geruschkat: Unternehmen heißen ja Unternehmen, weil sie etwas unternehmen. Von daher erreichen die SIHK sehr viele richtige und wichtige kritische Rückmeldungen aus der Wirtschaft zu politischen Entscheidungen, die immer wieder auch bis nach Berlin hin Gehör finden. Es erreichen uns auch zahlreiche Vorschläge und Ideen von Unternehmen, wie man in die Zukunft starten könnte. Dazu müsste den Unternehmen dann aber auch mal die Gelegenheit gegeben werden. Mal ein Vergleich zu einem Marathon: Wenn wir jetzt bei Kilometer 35 sind, sind die Beine zwar schwer, aber die Ziellinie nicht mehr weit. Das motiviert zum Durchhalten! Aber zur Wahrheit gehört auch, dass im Moment viele, vor allem kleinere Unternehmen, kurz vorm Aufgeben sind. Das schmerzt und hätte an vielen Stellen vermieden werden können.
Von Meck-Pomm bis Eversbusch
Verbrenner oder E-Auto?
Lange Strecke Verbrenner, kurze Strecke gerne mit dem E-Auto.
Mallorca oder Mecklenburg-Vorpommern?
Während Corona Meck-Pomm, danach gerne mal wieder Mallorca.
Eversbusch oder Vormann-Pils?
Muss doch kein Widerspruch sein, in Köln würde man ein Herrengedeck im Brauhaus bestellen.
Wie würden Sie die aktuelle Stimmung in der Wirtschaft beschreiben? Sind die vom Mittelstand geprägten südwestfälischen Betriebe tatsächlich so widerstandsfähig in der Krise?
Noch, und ich betone noch, halten die Dämme bei den meisten Unternehmen und ich habe allergrößten Respekt vor der Kraftanstrengung, die viele Mittelständler und ihre Belegschaften gerade in der Pandemie leisten. Aber insbesondere die Branchen, die in der Pandemie quasi einem Berufsverbot unterliegen, halten nicht mehr lange durch. Sobald es die Lage wieder zulässt, müssen Konzepte und Modelle stärker geprüft werden, die zeigen, ob sich wirklich an dieser Stelle Infektionen verbreiten oder ob es sich um sichere Geschäftskonzepte handelt und die Risiken woanders liegen.
Haben Sie das Gefühl, dass die Begleitung durch die Bundes- und Landesregierung – finanziell und informell – ausreicht? Was läuft gut, wo liegen große Defizite?
Leider hat sich über die vergangenen Wochen und Monate hinweg zum Teil tiefe Enttäuschung in vielen Unternehmen breitgemacht, was das politische Krisenmanagement angeht. Viele haben zwar Respekt vor der Verantwortung, die auch Politik unter ganz neuen Umständen wahrnehmen muss. Aber die Hilfen waren zu oft zu bürokratisch und erreichen viele Unternehmen nach wie vor nicht schnell genug. Die Zeit seit dem letzten Sommer hätte die Politik dafür nutzen müssen, in Modellversuchen herauszufinden, ob es wirklich der Einzelhandel, das Kino oder das Gastgewerbe ist, die die Infektionen treiben oder ob das Infektionsgeschehen nicht ganz woanders herkommt. Stattdessen wurde die Chance dafür verpasst, und seit Monaten leiden Unternehmen unter pauschalen Schließungen. Unternehmen haben häufig viel Geld und Aufwand in Konzepte zum Schutz ihrer Gäste gesteckt, das wurde und wird zu wenig gewürdigt.
Das größte Wehklagen vernimmt man zurzeit aus dem Einzelhandel. Was erwarten Sie, wie sich das Bild in der Hagener Fußgängerzone bis zum Herbst verändert? Sind die Prognosen von 30 bis 50 Prozent Insolvenzen realistisch?
Die zum Teil immer noch ausgesetzte Insolvenzantragspflicht erlaubt es im Moment nicht, jetzt schon seriöse Prognosen zu den Insolvenzen zu machen. Die Fälle, die aber schon bekannt sind, machen Sorgen. Sicher ist, dass der Wandel der Innenstädte durch die Corona-Pandemie wie im Zeitraffer beschleunigt wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt zusammen mit der Stadt und den Praktikern in die Diskussion gehen, wie die Innenstadt der Zukunft und nach der Wiedereröffnung aussieht. Das ist übrigens auch ein zentrales Thema der Stadtplanung, denn das Gesicht der Innenstadt wird sich verändern. Wohnen, Einkaufen, Arbeiten und innenstadtverträglicher Verkehr darf kein Gegensatz mehr sein, sondern Hand in Hand in lebendigen Quartieren funktionieren müssen. Dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen und wir sollten weder das emissionsarme Auto, noch den produzierenden Betrieb aus der Innenstadt verbannen.
Ein kölscher Jung für Südwestfalen
Dr. Ralf Geruschkat (47) ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Außerdem zählen zum Haushalt ein Hund sowie ein Zwergkaninchen.
Der kölsche Jung, absolvierte sein BWL-Studium und die VWL-Promotion in Marburg sowie in den USA, bevor ihn sein beruflicher Werdegang zum Deutschen Industrie- und Handelskammertag in Berlin führte.
Nach zweijähriger Tätigkeit beim DIHK in Brüssel ging es zurück nach Berlin, im Anschluss nach Frankfurt und 2017 letztlich wieder in sein Heimatbundesland NRW zur SIHK in Hagen.
Schon vor Corona war die Krise des stationären Einzelhandels – vorzugsweise wegen der Online-Konkurrenz – in aller Munde. Was muss sich jetzt zum Restart ändern, welche Schwächen deckt Corona auf und wo liegen Chancen?
Die SIHK arbeitet seit vielen Jahren unter anderem im Projekt „CityLab“ mit Einzelhändlern zusammen, die wir bei ihrem Weg in die Zukunft unterstützen. Häufig also mit einem Laden vor Ort und zugleich mit einem Online-Shop im Netz. Dafür müssen wir aber ehrlicherweise noch mehr Einzelhändler begeistern, und Corona lässt jetzt unterm Strich auch überhaupt keine Wahl mehr, als sich mit neuen Konzepten im Einzelhandel auseinanderzusetzen.
Welche Möglichkeit sehen Sie aufseiten der klammen Stadt, den Betrieben und dem Handel aus dem Pandemie-Tal herauszuhelfen?
Geld ist nicht alles! Wir brauchen eine flexible und dienstleistungsorientierte Verwaltung für wirklich schwer gebeutelte Unternehmen. Ein Beispiel: Wenn die Außengastronomie irgendwann mal wieder starten darf, brauchen wir mehr Außenflächen, um den Abstand zwischen den Tischen zu gewährleisten. Klar, Fluchtwege müssen offen sei, aber bitte nicht mit dem Zentimeterband abmessen, wie viel zusätzliche Gebühren bei der Nutzung von Außenflächen kassiert werden können. Insgesamt setzt die Wirtschaft darauf, dass nach der Krise nicht sofort an der Steuerschraube gedreht wird, um Schuldenberge abzutragen. Sondern Wirtschaft muss die Chance bekommen, nach der Krise wieder in Fahrt zu kommen, dann kommen auch automatisch mehr Steuereinnahmen in die Staatskasse, ohne Steuern und Gebühren zu erhöhen.
Die Corona-Monate haben – trotz aller Online-Formate – auch den Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung – stark getroffen. Befürchten Sie, dass es hier zu nachhaltigen Defiziten und einem hohen Nachholbedarf kommt?
Betriebe mussten auch schon vor der Krise bei vielen Azubis Nachhilfe leisten, um den Stand zu erreichen, der eigentlich in den Schulen hätte vermittelt werden müssen. Corona hat in vielen Bereichen gnadenlos Schwachpunkte aufgezeigt, das gilt leider auch für die Schulen, die jetzt im Rekordtempo digitalisieren müssen, vor allem aber auch genug Personal brauchen, um allen Schülergruppen gerecht werden zu können. Unterm Strich gibt es wegen Corona auf jeden Fall ein Problem bei der Berufsorientierung und beim Abholen aller Schulabgänger. Unsere SIHK-Formate wie zum Beispiel die Management AG , mit der wir Schüler für Wirtschaft und Technik begeistern, konnten zum Teil gar nicht oder nur eingeschränkt stattfinden.
Viele Branchen beklagen ohnehin einen Fachkräftemangel und immer dürftiger vorgebildete Schulabgänger. Wird die Wirtschaft nach der Pandemie hier viel Nachholarbeit leisten müssen?
Nachholen müssen wir vor allem bei den Digitalisierungskompetenzen aller Fachkräfte. Egal ob im Handel, in der Industrie und bei Dienstleistern: Wer in Zukunft nicht absolut fit ist in der täglichen Arbeit mit Computern, Programmen und Software, hat ein Problem. Das gilt aber nicht nur für Schülerinnen und Schüler, das gilt auch für mich und für Sie: Wir alle haben in den letzten Monaten einen enormen Lernprozess hingelegt, was Leben und Arbeiten in der digitalen Welt bedeutet. Wir wussten es schon immer, aber jetzt haben wir keine andere Wahl mehr: Wir müssen uns alle dringend für die Digitalisierung fit machen.
Einmal der mutige Blick in die Glaskugel: Wo stehen wir im Frühjahr 2022?
Hoffentlich zusammen auf dem Friedrich-Ebert-Platz! Geimpft und wenn es erlaubt ist, ohne Abstand und Maske. Mit offenen Restaurants und geöffneten Geschäften an einem sonnigen Sonntagmittag. In der einen Hand die Einkaufstüte – nicht aus Plastik – und in der anderen Hand vielleicht ein Eis oder ein Glas Kölsch. Dafür müsste aber jetzt endlich die Impfkampagne Fahrt aufnehmen.