Hagen. Dies ist die Geschichte eines erstaunlichen Werdegangs: Zu Schulzeiten war Jörn Quent aus Hagen ein Nichtstuer. Jetzt studiert er in Cambridge.
Wer Jörn Quent von früher kennt, der würde nicht glauben, dass er heute Psychologie studiert. Und das nicht irgendwo, sondern in
Cambridge, jener Elite-Universität
, die nur besonders begabten Anwärtern einen Platz gewährt. Zu diesem erlauchten Kreis gehört der Psychologie-Doktorand Quent (29). „Ich bin glücklich mit meinem Leben, mit dem, was ich tue“, sagt er: „Aber um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin, musste ich mich grundlegend verändern.“
Die Geschichte von Jörn Quent ist die Geschichte des
zweiten Bildungsweges
, der es jungen Leuten, die nur Flausen im Kopf hatten wie Jörn Quent, möglich macht, ihr Leben noch einmal neu anzupacken, wenn sie die wilden Jahre denn endlich hinter sich gelassen haben. Manche schaffen das nie, Quent hat es geschafft.
Hagener Kolleg öffnet neue Türen
Als seine Zukunft schon verbaut schien, hat ihm das Rahel-Varnhagen-Kolleg in Hagen neue Türen geöffnet, die ihn schließlich nach Cambridge geführt haben: „Ohne diese Schule, ohne diese Lehrer wären mir diese Türen nie geöffnet worden“, blickt er voller Dankbarkeit auf das Kolleg zurück.
Jörn Quent wuchs in Eppenhausen auf, besuchte die Grundschule Boloh und dann die Realschule Halden, wechselte von dort auf das
Albrecht-Dürer-Gymnasium und von dort aufs Fichte-Gymnasium
. Nirgendwo blieb er lange, nirgendwo fühlte er sich wirklich wohl, nirgendwo glänzte er mit hervorstechenden Leistungen. Im Gegenteil: Einmal blieb er sitzen, ein anderes Mal wurde er nur versetzt, weil die Schule versäumt hatte, ihn vorzuwarnen. „Die Schule hatte aber auch nie wirklich Priorität für mich“, erinnert sich Quent an seine Pubertät: „Ich hab rumgehangen und mich mit Freunden getroffen. Ich habe Partys gefeiert. Meine Eltern wollten mich in die Spur bringen, aber ich habe mich nicht lenken lassen.“
Schulabbruch nach Klasse 9
Nach einem Praktikum in einem Hagener Hotel kam er zu dem ernüchternden Fazit: „Das ist nichts für mich.“
Er zog die Konsequenzen aus dieser Selbsterkenntnis und verließ das Gymnasium nach der Klasse 9 mit dem
Hauptschulabschluss
in der Tasche. Er zog zu Hause aus, ging jobben, lebte in den Tag hinein. „Ich hatte keinen Plan“, sagt er. Eine Lehrerin, mit der er über seine Situation sprach und die glaubte, dass mehr in diesem jungen Mann steckte, vermittelte ihm ein Bewerbungsgespräch am Rahel-Varnhagen-Kolleg. Quent verbaselte den Termin. Erst im zweiten Anlauf ging er hin und entschloss sich, wenigstens den Realschulabschluss nachzumachen.
Die zweite Chance
Das Rahel-Varnhagen-Kolleg, benannt nach der gleichnamigen Schriftstellerin (1771 bis 1833) aus Berlin, die zum Sinnbild für politische Aufklärung und jüdische Emanzipation wurde, ist eine städtische Schule für Erwachsene, die hier vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur alle möglichen Bildungsabschlüsse nachholen können. Es ist die zweite Chance. Und Jörn Quent ergriff sie: „Ich muste meinen Weg noch mal gehen. Und das
Rahel-Varnhagen-Kolleg
hat mir das ermöglicht.“
Es war nicht sein Charakter, der sich änderte, es war seine Einstellung zum Lernen (und zum Leben). Wenn er sich etwas vornehme, dann mache er es auch richtig, sagt Quent. Früher hatte er nie Hausaufgaben erledigt oder sich auf Klausuren vorbereitet, jetzt tat er es. Früher hatte er kaum ein Wort Englisch gelernt, jetzt stellte er fest, dass ihm die Sprache lag und wählte sie zum Leistungskurs. Früher war ihm die Schule egal, jetzt stellte sich Ehrgeiz ein. Quent erhielt Schüler-BaföG und war als Fahrradkurier tätig: „Da ich nur zwei Tage pro Woche ins Kolleg gehen musste und den Rest in Einzelarbeit zuhause erledigen konnte, blieb ich berufstätig und behielt meine Unabhängigkeit.“ Er holte den Realschulabschluss nach und mit 21 Jahren das Abitur. Mit einer „Eins plus“ in Latein, worauf er noch heute stolz ist.
Studium in Rekordzeit an der Ruhruniversität
Jörn Quent war jetzt in der Spur. Er studierte Psychologie in Rekordzeit an der Uni in Bochum, ein Auslandssemester führte ihn nach Nebraska, ein Forschungsaufenthalt nach Kalifornien. Er studierte zielstrebig und gewissenhaft, er hatte seine Selbstfindungsphase ja längst hinter sich und wusste, was er wollte: das menschliche Gedächtnis näher kennen lernen. Er bewarb sich als Doktorand in Cambridge, wurde unter 5000 Bewerbern für einen der begehrten Studienplätze ausgewählt. Er ist Stipendiat der Bill-Gates-Stiftung, was selbst in Cambridge noch einmal eine besondere Auszeichnung darstellt.
Im ultra-alten, antimodernen Ambiente der ehrwürdigen Universität, wo trotz aller traditionellen Attitüde flache Hierarchien und Aufgeschlossenheit herrschen, wirkt Quents Leben fast surreal. Aus dem einstigen Hagener Flegel ist ein seriöser Wissenschaftler geworden, dem eine glänzende Karriere winkt. Manchmal dränge sich sein jüngeres Ich aus seiner Sturm- und Drangzeit wieder ins Bewusstsein, erzählt er: „Dann schlage ich ihm mental hundertmal auf den Hinterkopf, um ihm Vernunft einzubläuen.“
Der zweite Bildungsweg bringt Hagener in die Spur
Er sagt, jeder Mensch sei der Schmied seines eigenen Glücks, aber das Varnhagen-Kolleg sei das Feuer gewesen, um überhaupt schmieden zu können. Er persönlich sei froh, dass er das Abitur nicht auf dem ersten Bildungsweg geschafft habe. „Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, wo ich heute wäre ohne den zweiten Bildungsweg. Unter einer Brücke vielleicht?“