Hohenlimburg. Dorothea Weniger wurde in Niederschlesien geboren. In Hohenlimburg hat sie eine neue Heimat gefunden.

Es mag 75 Jahre her sein. Und doch ist die Erinnerung nicht annähernd verblasst. Wer mit Zeitzeugen der großen Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten und aus Ostmittel- und Osteuropa 1944 und 1945 spricht, spürt förmlich die starke Präsenz der einschneidenden Ereignisse in den Köpfen der Betroffenen.

Bis zu 14 Millionen Menschen verloren in diesen Jahren ihre Heimat. Die Hohenlimburger Landsmannschaft Schlesien ist in gewisser Weise eine Folge dieser großen Flucht. So sehr sie mit dem tragischen Verlust der Heimat verbunden ist, so sehr zeigt dieses Hohenlimburger Beispiel aber auch, wie eine neue Heimat entstehen kann. Ein Gespräch mit der 89-jährigen Dorothea Weniger.

Fotoalbum mit Erinnerungen

Mit einem warmen Lächeln und einem Fotoalbum sitzt Dorothea Weniger vor ihrer Wohnzimmerwand, an der eine alte Karte die „Heimat Schlesien“ umreißt. Darüber ein silberfarbener Teller mit dem Wappen der Stadt Jauer, eine weitere Karte „Deutschland und deutsche Besiedlungsgebiete“ und ein Gruppenbild freundlicher Damen in schlesischer Tracht. Würde man nur auf diese Wand schauen, erhielte man den Eindruck, dass jenes Schlesien noch besteht.

Tut es aber nicht. Schlesien liegt heute größtenteils in Polen, Teile Niederschlesiens in Deutschland und ein südlicher Teil Oberschlesiens gehört zu Tschechien. Die Wohnzimmerwand hat also eine Zeit eingefroren, die nach 1945 endete.

Dorothea Weniger wurde in Jauer geboren. Heute heißt das Jawor und ist eine Kreisstadt in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien und ist bekannt für seine Friedenskirche, die Weltkulturerbe ist. Am 6. Februar 1945 wurde die Zivilbevölkerung nach Böhmen evakuiert. Am 12. Februar 1945 wurde Jauer von der Roten Armee eingenommen. Am 13. und 14. Februar steckten sowjetische Soldaten die Stadt in Brand. Am 28. April wurde Jauer unter polnische Verwaltung gestellt. Verlust und Unkenntlichmachung einer Heimat in nur drei Monaten. Dorothea weniger kam über Prag und Pilsen bis ins heute süddeutsche Hof, wo sie später nach einer Lehre Damenschneiderin wurde. Ihre Mutter war mit vier Kindern geflohen.

Der Vater klopfte nach Ablauf seiner Zeit als Soldat erst zwei Jahre später plötzlich an die Tür der Familie. „Er war nicht wiederzuerkennen, er war abgemagert“, erinnert sich Dorothea Weniger. Als ihre Tante, eine Lehrerin, nach Hohenlimburg ging, besorgte sie dem Vater hier eine Anstellung bei Göke. So kam auch Dorothea Weniger nach Hohenlimburg.

Landsmannschaft stiftet Identität

Welch vernetzende und identitätsstiftende Wirkung die Landsmannschaft Schlesien, die im März 1950 gegründet wurde und neben weiteren Aufgaben die politischen und kulturellen Interessen der Schlesier vertritt (siehe Infobox), hat, zeigt sich ebenfalls am Beispiel von Dorothea Weniger. Auf einem Silvesterball der Landsmannschaft lernte sie ihren späteren Mann kennen. „Ich fühle mich sehr wohl hier, ich bin eine Hohenlimburgerin geworden“, sagt Weniger. „Aber je älter ich werde, desto mehr spüre ich auch den Verlust.“ Der Heimat, der Wurzeln, der Herkunft. Es habe nie eine richtige Aufarbeitung des Geschehenen gegeben. Weder von der Vertreibung, noch von Kriegsgefangenschaften, noch von der schwierigen Zeit in einer zwar deutschen, aber doch fremden Gesellschaft Fuß zu fassen.

Das gelang, weil es unter anderem die Landsmannschaft Schlesien in Hohenlimburg gab und gibt. Man vernetzte sich, half sich, man unternahm gemeinsame Aktivitäten und man integrierte sich gemeinsam in die neue Heimat.

3,2 Millionen Schlesier wurden vertrieben

Ostpreußen, Schlesien, Pommern und Ost-Brandenburg gehörten zu den deutschen Ostgebieten.

In diesem Bereich lebten bis 1939 rund 9,6 Millionen Menschen. Knapp 4,6 Millionen davon in Schlesien. Rund 3,2 Millionen Schlesier wurden vertrieben.

Das Eigentum der vertriebenen Deutschen wurde 1946 als „verlassenes Gut“ entschädigungslos konfisziert. Die späteren deutsch-polnischen Aussiedler aus Schlesien haben hingegen nicht ihr gesamtes Eigentum verloren, einige haben nach 1990 Teile ihres Eigentums in Polen zurückerhalten.

Dorothea Weniger aus Hohenlimburg war – auch wenn sie das nicht gern über sich selbst sagt – ein Motor dieses Prozesses und eine Bewahrerin des Zusammenhaltes. 2011 erhielt sie für diese Verdienste das Schlesierkreuz. Weil sie in jahrzehntelanger Arbeit die kulturelle Erinnerung an ihre Heimat erhalten hat. Ihre Verdienste rund um das Thema Schlesien, in Verbindung mit dem integrativen Gedanken, wurden in besonderer Weise gewürdigt. Sie hatte das schon damals als eine Ehrung für die gesamte Landsmannschaft und nicht für sich selbst begriffen.

„Wir sind alle älter geworden“, sagt Dorothea Weniger. Kostüme anfertigen, Fahrten unternehmen, Nachmittage organisieren – all das findet immer noch statt, fällt aber mittlerweile viel, viel schwerer. Der Geist, der die Landsmannschaft Schlesien umgibt, ist aber immer noch allgegenwärtig. Er verbindet Menschen miteinander, die vor 75 Jahren ihre Heimat verloren und eine neue fanden.