Wehringhausen. Ein Bagger wird die Häuser an der Wehringhauser Straße in den nächsten Wochen abtragen. Wir haben ein letztes Mal hinter alte Türen geblickt.

Mit verkitschter Niedlichkeit blicken die Gesichter der Putten-Engel auf die Wehringhauser Straße. Seit etwa 120 Jahren starren die stilisierten Himmelsboten von der auch heute noch schmucken und mit kunstvollem Zierwerk dekorierten Fassade des Hauses mit der Nr. 95 herab. In wenigen Wochen wird das Gebäude mit zwei sich rechts anschließenden Immobilien verschwunden sein. Die Stadt trennt sich mit Hilfe von Fördermitteln von ihren Problemimmobilien, um gerne von Südosteuropäern favorisierten Billigwohnraum vom Markt zu nehmen.

Abriss muss bis 2022 erledigt sein

Der Abriss der drei Gebäude Wehringhauser Straße 95 bis 99 ist erst der Anfang. Letztlich soll die gesamte Häuserzeile zwischen der S-Bahn-Unterführung und dem Aldi-Discounter verschwinden.

Die beiden Immobilien mit ihren Hinterhäusern, die an den Lebensmittelmarkt direkt angrenzen, sind nach Angaben von Monika Kepka von der städtischen Koordinierungsstelle Problemimmobilien bereits im Besitz der Kommune.

Probleme gibt es lediglich noch mit dem mittleren Objekt, dessen neun Wohneinheiten vier unterschiedliche Besitzer haben. Aber auch hier ist die Stadt zurzeit dabei, sich den Zugriff zu sichern.

Der gesamte Abriss muss bis zum Jahr 2022 gelaufen sein, weil zu einem späteren Zeitpunkt die Fördergelder für die Maßnahme nicht mehr fließen.

Die Klingelschilder an den Türen sind längst namenlos, Scherben aus den oberen Fensterscheiben liegen auf den Eingangsstufen, ein versiffter Teppich vor der Tür gibt einen muffig riechenden Vorgeschmack auf das pralle Leben, das sich hinter den Mauern der Objekte aus der Zeit der Jahrhundertwende abgespielt hat. Hier wurde über Generationen gelacht und geweint, gestritten und geliebt, getrauert und gefeiert, gezeugt und groß gezogen, Familienfeste zelebriert, Gemütlichkeit genossen oder einfach bloß der schnöde Alltag bewältigt.

Vorbei. Die Eingänge sind verriegelt, die letzten Bewohner haben längst das Weite gesucht. Und damit sind nicht etwa bloß die Mieter gemeint. Nach ihrem Auszug haben sich in den Häusern erst noch Metall-Diebe getummelt, dann eine Party-Szene die Nächte zum Tag gemacht, bevor letztlich Junkies und Obdachlose hier Unterschlupf fanden und die „verkehrsgünstige Lage“ genießen durften. Immerhin fahren vor der Tür nicht bloß Zehntausende Autos tagtäglich vorbei, sondern auf der Hinterseite rollt zum Greifen nahe auch die S-Bahn-Linie in Richtung Rheinland und im Luftraum darüber schwenken die Jets dröhnend in die Einflugschneise in Richtung Düsseldorf ein. Fehlt eigentlich bloß noch der U-Bahn-Tunnel unter den niedrigen Kellerräumen, in denen eine üppige Spinnenpopulation mit ihren filigranen Netzen den letzten Rundgang vor dem Abrissbagger zu einer eher unangenehmen, sensitiven Erfahrung im Gesicht werden lässt.

Materialberge im Innenhof

Gussstahlstützen mit Stuckarbeiten erinnern an deutlich prachtvollere Zeiten der heruntergekommenen Immobilien.
Gussstahlstützen mit Stuckarbeiten erinnern an deutlich prachtvollere Zeiten der heruntergekommenen Immobilien. © WP | Michael Kleinrensing

„In etwa drei Monaten werden die Häuser Geschichte sein“, kündigt Dr. Paul Kamrath vom gleichnamigen Dortmunder Abrissunternehmen an. Derzeit sind seine Mitarbeiter bereits damit beschäftigt, das Innenleben der Gebäude zu demontieren und nach Materialien getrennt im Hinterhof zu stattlichen Bergen aufzutürmen. Innerhalb der nächsten Woche wird ein Bagger auf einem Schuttteppich auf der Wehringhauser Straße platziert, damit der stählerne Koloss nicht den Bürgersteig und die Fahrbahn beschädigt. Bevor die Wände schrittweise von oben abgetragen werden, gilt es zunächst die hölzernen Dachstühle herunterzusägen.

Beim Betreten der Häuser beginnt eine fantasieanregende Zeitreise: Sie führt über filigrane Bodenfliesen, hölzerne Treppenhäuser, mit verschnörkelten Geländern umsäumte Balkone und an mit Stuckkapitälen verzierten Gussstahlstützen vorbei bis in die Giebelregionen, wo eine knirschende Kotschicht die jüngste Taubenregentschaft dokumentiert. Die Übergänge von Stockflecken und Schimmelbildung an den Außenwänden sind fließend, Toiletten finden sich auf halber Treppe, Schlackefüllungen rieseln aus den hölzernen Decken. Hinter den bereits heruntergerissenen Rigipsplatten werden Tapetenmuster aus längst vergangenen Zeiten wieder sichtbar, die Metallbeschläge an den verrotteten, zugigen Holzfenstern lassen Sammlerherzen Polka tanzen. Aus vier Etagen mit knatschbunt gestrichenen Wänden müssen noch die Heizkörper heruntergeschleppt werden.

Anarchischer Protest

Aber auch vergessene Drogen-Spritzenbestecke gehören zur Realität dieser Abrissimmobilien. Der sich türmende Unrat am Boden spiegelt den Speisezettel der letzten Bewohner wider. Was sie bewegt hat, lässt ein Wahlplakat der APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands) vermuten, die sich einst selbst als der „Anwalt des Pöbels und der Sozialschmarotzer“ beschrieb und das Recht auf Arbeitslosigkeit bei vollem Lohnausgleich propagierte: Im Hinterhaus an der Wehringhauser Straße wurde die „Partei der friedlichen und lustvollen Rückverdummung“, so der Werbe-Slogan aus dem Hessen-Wahlkampf, offenbar sehr geschätzt.

Die Putten an der Fassade haben bis zuletzt zu solchen Zeitgeistphänomenen geschwiegen – jetzt macht der Bagger dem Spuk ein endgültiges Ende.