Hagen. Hernien sind ein weit verbreitetes, aber verschwiegenes Medizinfeld. Die Hagener Betroffenen organisieren sich - in der gesamten Republik.
Dirk Dombrowski war 35 Jahre alt. Ein starker Mann, der als Walzer bei Krupp gelernt hatte und später in der Härterei arbeitete. Heute ist er 54 und die Einkäufe trägt seine Frau. Vermutlich haben die meisten Menschen das Wort, das Dirk Dombrowskis Problem beschreibt, noch nie gehört – was zwei Dinge verdeutlicht. Erstens, welch schlechte Lobby die Krankheit hat, und zweitens, dass es ein Thema ist, mit dem man sich höchst selten in Kaffeerunden setzt. Denn Dombrowskis Problem sind Hernien. Eingeweidebrüche.
„Die Lobby der Betroffenen ist viel zu klein“
Simone Siegfried gründete im Jahr 2016 aus eigener Betroffenheit heraus die „Selbsthilfegruppe Hernie“ in Hagen. Mittlerweile ist daraus ein deutschlandweit tätiger Verein geworden, der intensive Lobby- und Aufklärungsarbeit betreibt: die Hernien-Selbsthilfe Deutschland. Mit an Bord sind auch viele medizinischen Experten.
1.Frau Siegfried, wenn man mit Ihnen über dieses Thema spricht, spürt man Ihren Aufklärungswillen. Was treibt Sie so an?
Simone Siegfried: Ich war selbst von einem Narbenbruch betroffen. Durch die rechtzeitige Operation konnte die Gefahr einer akuten Einklemmung von Bauchorganen überwunden werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus empfand ich große Dankbarkeit und entwickelte die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Die Initiative wurde von meinem Operateur, Dr. Richard Klatt, begrüßt und im Rahmen der Gründungsveranstaltung im Oktober 2016 durch einen Vortrag zum Thema Hernien aktiv unterstützt. An dieser Veranstaltung nahm auch Frau Lohmann, zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiterin des Selbsthilfebüros Hagen des Paritätischen, teil. So hat alles begonnen.
2.Wie ist die Resonanz auf das mittlerweile vier Jahre währende Engagement?
Sie ist groß. Das spüren wir in Telefonaten und in Gruppentreffen, aber auch im Austausch in der Facebook-Gruppe mit aktuell 600 Betroffenen. Oberarzt Dr. Klatt sowie Professor Dr. Friedrich Kallinowski von der Uni-Klinik Heidelberg unterstützen uns bei Bedarf in fachlichen Fragen. Dr. Kallinowski war und ist der Meinung, dass die Lobby der Betroffenen viel zu klein ist und will mit unserem Verein gemeinsam etwas dagegen tun. Die gelebte Zusammenarbeit mit den Experten, zu denen unter anderem auch Physiotherapeuten gehören, stellt für uns eine wichtige Säule für unsere Gruppenaktivitäten dar. Die Kooperation begründet sich auf dem gemeinsamen Ziel, dass sowohl Betroffene als auch verschiedene Profis die Behandlungsqualität verbessern möchten. Das ist paradox. In Deutschland werden jährlich 350.000 Hernien-Operationen durchgeführt.
3.Wie kann die Krankheit eine so schlechte Lobby haben?
Es gibt etwa 10 Prozent Chroniker. Viele kennen Hernien überhaupt nur im Zusammenhang mit Leistenbrüchen, dabei gibt es noch andere Hernien, deren Versorgung umso anspruchsvoller wird, je länger sie unentdeckt bzw. unbehandelt bleiben. Wir spüren, dass die Betroffenen Wert auf unabhängige Informationen von Gleichbetroffenen legen. Und die bieten wir.
4.Was bietet der Verein inhaltlich und wo kann man sich informieren?
Wir organisieren Gruppentreffen (aktuell auch online) und Vorträge, bieten Vernetzung unter Betroffenen, aber auch mit Medizinern, und geben wertvolle Tipps für den Alltag. Die Homepage bietet daneben ärztlich geprüfte Informationen. Wir organisieren jährlich einen Gesundheitstag mit verschiedenen Experten. Am 3. November findet der bundesweite Aktionstag „Tag der Hernie“ statt. Wir freuen uns über neue Mitstreiter.
Mit Simone Siegfried sprach Mike Fiebig
20 Operationen hat das in Dombrowskis Fall mittlerweile nach sich gezogen. 2001 drückte und zog es plötzlich in seinem Bauchraum. Kurz vor Weihnachten war das. Er konnte nicht mehr zur Toilette gehen. Sein Darm war bereits eingeklemmt. Ein Stück der Bauchdecke war eingerissen. „Ich musste notoperiert werden im Elseyer Krankenhaus“, erinnert sich Dirk Dombrowski. Er erinnert sich, damals leicht übergewichtig gewesen zu sein. Vor allem aber verfügte er über relativ schwaches Bindegewebe und arbeitete körperlich hart. „Nach der ersten großen Operation entzündete sich die offene Wunde. Nach einem Jahr öffnete sie sich wieder. „Bis zum Jahr 2017 habe ich inzwischen 20 Operationen gehabt“, sagt Dirk Dombrowski. Fistelbildungen, Verwachsungen und Netzrisse. 2017 mussten drei Operationen binnen einer Woche durchgeführt werden. Intensivstation und lange Leidenswege. „Ich habe insgesamt über ein Jahr im Krankenhaus gelegen“, sagt Dombrowski. Während der letzten OP musste er sogar noch reanimiert werden. Hinzu kam, dass Dirk Dombrowski an Blasenkrebs erkrankte.
Übergewicht abbauen
Eine Hernie ist der Austritt von Eingeweiden aus der Bauchhöhle. Voraussetzung für einen solchen Bruch ist eine Schwachstelle in der Bauchhöhle.
Die Ausheilung zu einer festen Narbe nimmt bis drei Monate in Anspruch. Zug- und Druckbelastungen, die z. B. beim Heben schwerer Gegenstände, bei heftigem Husten oder durch abrupte Bewegungen entstehen, sollten möglichst vermieden werden. Je nach Größe des Bruches sollten diese Belastungen bis zu zwei Jahren vermieden werden, um den Behandlungserfolg zu sichern. Eventuelles Übergewicht sollte möglichst abgebaut werden.
Nun muss man dazu sagen, dass Dirk Dombrowskis Beispiel ein sehr hartes ist. Es gibt durchaus Fälle, in denen Menschen nur einmal im Leben mit einer Hernie zu tun und danach ihre Ruhe haben. Wer es öfter erleben muss, so wie Dirk Dombrowski, der steht zusätzlich vor der schwierigen Herausforderung, dass viele Menschen im Umfeld gar nichts mit Hernien anfangen können.
„Dabei haben viele Menschen ein derartiges Problem vielleicht schon, ohne es zu wissen“, sagt Dombrowski. Das Tabu und die Hemmschwelle wurden erst gebrochen, als Dirk Dombrowski auf die Hernien Selbsthilfegruppe stieß, die aus Hagen heraus mittlerweile zu einem eigenen und deutschlandweit tätigen Verein geworden ist.
„Das ist für mich der optimale Weg. Da kann ich mich austauschen und finde Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Es sind einige Betroffene darunter, die auch einige Operationen über sich ergehen lassen mussten. Das macht es zwar nicht besser, aber der Austausch ist hilfreich.“ Dirk Dombrowski ist mittlerweile zweiter Vorsitzender des Vereins (siehe Beitext). Die Angst, dass alles noch einmal wiederkommen könnte, ist ein stetiger Begleiter seines Lebens geworden.
Leistenbruch ist bekannteste Hernie
Hernien sind der Austritt von Eingeweiden aus der Bauchhöhle. Die entstehende Lücke in der Bauchhöhle kann genetisch bedingt sein oder im Laufe des Lebens entstanden sein. Die wohl bekannteste Hernie in der Bevölkerung ist der Leistenbruch.
Unterschieden wird dabei auch in inneren und äußeren Hernien. Innere können auch am Zwerchfell liegen. Äußere Hernien sind dabei sogar oft durch Auswölbungen sichtbar. Operiert werden kann nach der offenen Methode oder mittels Bauchspiegelung.
Bei der offenen Operation wird die Hernie nach einem Bauchschnitt zurückgedrückt und der Bruchsack durch feine Kunststoffnetze verstärkt. Feine Kunststoffnetze geben bei größeren Brüchen Halt beim Verheilen der Narbe. Dirk Dombrowski hat seit drei Jahren Ruhe. Schwer heben darf er heute nicht mehr. Er ist mittlerweile im Qualitätsmanagement in seiner Branche tätig.
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Jedes Jahr werden in Deutschland 300.000 Hernien-Operationen durchgeführt. „Wir wollen mit unserem Selbsthilfe-Verein für Aufklärung sorgen. Wenn man so will, wollen wir, dass das kein Tabu-Thema mehr ist. Ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg, aber wir wollen noch weiter wachsen“, sagt Dombrowski. Zu diesem Zweck haben sich auch renommierte Professoren uns spezialisierte Ärzte mehrerer Kliniken dem Selbsthilfe-Verein angeschlossen und unterstützen mit ihrer Expertise. Von Hagen aus erwächst hier die endlich nötige Lobbyarbeit für ein oft verschwiegenes medizinisches Feld.