Hagen. Eine adoptierte Hagenerin erzählt in der WP-Tabu-Serie von ihrer Suche nach sich selbst und ihren Familienwurzeln.

Marion Schulte (56) war auf der Suche nach sich selbst. Viele, viele Jahre lang. Ihre leibliche Mutter gab sie in die Hände eines Kinderhauses, das von Kapuzinerpatern geleitet wurde. Niemals im Leben hat Marion Schulte die Frau, die ihre Mutter war, getroffen. „Und das war auch nicht nötig“, sagt die 56-Jährige. „Als ich wusste, was ich wissen wollte, war meine Suche beendet.“

Die Frage nach der Herkunft

Es gibt Punkte im Leben, so beschreibt Marion Schulte das, da wird man immer wieder daran erinnert, wo seine Wurzeln liegen. Wo man herkommt. Da sind der Anfang und das Jetzt irgendwie eins. Die Kindheit und das Erwachsensein. Marion Schulte hat das gespürt, als sie selbst Mutter wurde. „Mit 20 Jahren wurde ich zum ersten Mal schwanger. Und irgendetwas in mir hat mir gesagt, dass ich jetzt wissen will, wer meine leiblichen Eltern sind“, erinnert sie sich 36 Jahre später.

Suche nach sich selbst

Für Marion Schulte ist es heute kein Tabu mehr, über ihre Geschichte zu sprechen. Das Leben hat sie zu diesem Punkt gebracht. Die lange Suche nach sich selbst. Die innere Ruhe, dass die Dinge so wie sie sind, völlig in Ordnung sind.

„Darüber zu sprechen, ist jetzt nicht mehr schwer. Ich weiß, wer ich bin. Ich bin Marion Schulte“, sagt sie.

Die Adoption durch Verwandte oder Stiefeltern ist laut Stadt Hagen zulässig, wenn sie dem Wohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht.

Die Adoptionsvoraussetzungen und die Adoptionseignung werden in diesem Fall mit der gleichen Sorgfalt wie bei Fremdadoptionen geprüft. Das ist ein Standardverfahren.

Nachdem ihre Mutter sie fortgegeben hatte, war Schulte, die damals anders hieß, über das seraphische Liebeswerk, das sich die Rettung hilfsbedürftiger und verwaister Kinder zur Aufgabe gemacht hatte, im Oktober 1964 in Hagen angekommen. Ein Ehepaar aus Hagen, das bereits zwei eigene Kinder hatte, adoptierte die damals kleine Marion. „Ich bin hier in Hagen in einem sehr behüteten Elternhaus aufgewachsen, und meine Adoptiveltern haben mich nie einen Unterschied zwischen ihren eigenen Kindern und mir spüren lassen“, sagt Marion Schulte.

Dennoch: Da war einer, ein Unterschied. Und Marion Schulte spürte das später an bestimmten Wende- und Weichenpunkten ihres Lebens. Mit 17 hatte sie zunächst einen Freund, der ebenfalls bei Pflegeeltern aufgewachsen war. Mit 20 dann die Schwangerschaft. Marion Schulte begann zu recherchieren. „Ich weiß bei diesem Prozess gar nicht, warum mich mein leiblicher Vater nie interessiert hat. Mir ging es immer nur um meine Mutter und warum sie mich weggegeben hatte.“

Eine jahrelange Recherche

Sieben Kinder zuletzt in Hagen adoptiert

„Es ist Aufgabe der Fachkräfte, bei den Adoptiveltern die Einsicht dafür wach zu halten bzw. zu wecken, wie elementar wichtig es ist, dass ihr Kind ,seine Geschichte’ von seinen Adoptiveltern vermittelt bekommt“, heißt es auf der Homepage der Stadt Hagen im Bereich der Adoptionsvermittlung. Eine Aufdeckung der Adoption, die zu spät, in kritischen Situation oder durch Dritte erfolge, erschüttere das Vertrauen des Adoptierten und könne zu schweren Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung und in den gegenseitigen Beziehungen führen.

2018 (das sind die frischesten Daten) wurden in Nordrhein-Westfalen 817 Kinder und Jugendliche zur Adoption vermittelt (424 Jungen und 393 Mädchen). 46 Prozent (379) der adoptierten Kinder und Jugendlichen waren jünger als drei Jahre und 33 Prozent (268) waren laut Statistischem Landesamt NRW zwischen drei und elf Jahren alt. Eine ausländische Staatsangehörigkeit hatten 9,3 Prozent (76) der adoptierten Minderjährigen. Der überwiegende Teil (61 Prozent) aller Adoptionen erfolgte durch einen neuen Partner des leiblichen Elternteils (Stiefvater/Stiefmutter). 23 Kinder wurden durch Verwandte und 294 Kinder durch nicht verwandte Personen (36,0 Prozent) angenommen.

Ende 2018 waren in Nordrhein-Westfalen 227 Mädchen und Jungen zur Adoption vorgemerkt; ihnen gegenüber standen zum gleichen Zeitpunkt 1111 bei den Adoptionsvermittlungsstellen gemeldete Bewerber, die ein Kind adoptieren wollten. Im Jahr 2018 wurden in Hagen sieben Kinder und Jugendliche adoptiert. Darunter fünf Mädchen. Zwei Kinder kamen in Adoptionspflege und vier wurden zur Adoption vorgemerkt. Und es gab daneben fünf vorgemerkte Adoptionsbewerber.

In Hagen werden nach wie vor „Inkognito-Adoptionen“, überwiegend aber „halb-offene“ oder „offene“ Adoptionen durchgeführt. Bei Inkognito-Adoptionen kennen sich die abgebenden Eltern und die Adoptiveltern nicht. Bei halb-offenen Adoptionen haben die abgebenden Mütter die Möglichkeit, die Adoptiveltern, ohne ihre Namen zu erfahren, evtl. vor der Geburt, kennenzulernen.

Die Geschichte, die Schulte mit Hilfe alter Dokumente, über das Maß des Erlaubten engagierten Jugendamtsmitarbeitern und dem Zutun ihrer aufgespürten Halbgeschwister herausbekam, ist verworren. Schulte muss aus einer Affäre entstanden sein.

Ihre Mutter lebte im Rheinischen. Aus erster Ehe gab es bereits zwei Kinder, zwei weitere kamen mit anderen Männern hinzu. Eines davon war Marion Schulte. „Meine Halbgeschwister, die ich gefunden habe, haben mir das erzählt“, sagt Marion Schulte. Der Halbbruder berichtete von vielen Affären der Mutter. Am Ende steht ein verworrenes und zerrüttetes Familienverhältnis und eine leibliche Mutter, die später entschied, nach Kalifornien zu gehen, wo sie wohl an Lungenkrebs verstarb. Das war 1986. Marion Schulte hatte sie bis dahin nie getroffen.

„Das musste ich auch nicht. Als ich wusste, wie die Geschichte gelaufen war, hatte ich meinen inneren Frieden gemacht. Seitdem habe ich keine Fragen mehr und bin mit mir im Reinen.“ Marion Schulte sagt, dass nicht alles, was den Menschen ausmache, Erziehung sei. Einen großen Teil schreibt sie dem zu, was uns durch Gene weitergegeben worden sei. Sie habe das manchmal gespürt, dass da irgendetwas in ihr anders war als bei den Geschwistern in ihrer Adoptiv-Familie. Und dennoch hätten ihre Adoptiv-Eltern sie so akzeptiert und in ihrem Sinne erzogen. Das sei am Ende sozusagen das Glück in einer Geschichte, die von dem Gefühl geprägt ist, nicht genau zu wissen, wo man herkommt und warum man dort, wo man herkommt, nicht willkommen war.

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Heute hat Marion Schulte zwei eigene Kinder. Sie sind 34 und 27 Jahre alt. „Mit ihnen spreche ich offen über meine Geschichte“, sagt sie. Ihre Kinder sollen das wissen. Und wie sich Kreise schließen und zu liebevollen Enden führen können, davon zeugt ein Bild an der Wohnzimmerwand von Marion Schulte, auf dem steht: „Das Einzige, was besser ist, als dich als Mama zu haben, ist dich als Oma zu haben.“