Hagen. Legasthenie: Die Hagener Arzthelferin Heike Steinhauer erzählt, wie sie trotz ihrer Rechtschreibschwäche jeden Tag einen prima Job machen kann.

Heike Steinhauer ist Arzthelferin in einer chirurgischen Praxis. Täglich verfasst sie Briefe, Diagnosen oder Empfehlungen, die ihr der Chef diktiert.

Legasthenie- Mit der Intelligenz hat es nichts zu tun

In der Genetik, der Neurobiologie und den Denk- und Wahrnehmungsprozessen sind laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie die Ursachen für die Störung zu finden. „So zeigen sich beispielsweise bei Kindern, die später eine Lese-Rechtschreibschwäche entwickeln oft schon früh Unterschiede bei der Verarbeitung von Sprache. Reize, die schnell aufeinander folgen, werden von Menschen mit Lese-Rechtsschreibschwäche (LRS) anders verarbeitet“, erklärt der Verband.

Wichtige Anzeichen für die Störung

Es gebe Anzeichen beim Lesen: niedrige Lesegeschwindigkeit, Verlieren der Zeilen, Vertauschen oder Hinzufügen von Silben und Buchstaben und Schwierigkeiten, den Inhalt des Gelesenen wiederzugeben. Beim Schreiben: Viele Fehler in Diktaten und beim Abschreiben von Texten. Schlechte Grammatik, unleserliche Handschrift. Mit mangelnder Intelligenz hat das gemäß der Fachliteratur zum Thema nichts zu tun. Betroffene können gesprochene Sprache nicht oder nur schlecht in Schrift umwandeln. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.

Verzögerte Entwicklung

Sie sind weniger fähig, Laute zu differenzieren und im Gehirn zu speichern. Es geht um die Zuordnung von Buchstaben zu Lauten und von Lauten zu Buchstaben. Kinder, die an Legasthenie leiden, sind in diesem Bereich verzögert entwickelt.

„Nicht selten haben Kinder mit Legasthenie zusätzlich psychische Probleme, die sich sowohl als Folge der Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln können, als auch vor dem Auftreten der Legasthenie bereits vorhanden sein können“, sensibilisiert der Bundesverband dafür, auch die psychologische Komponente im Blick zu behalten. Nach Recherchen des Nachrichtenmagazins Spiegel sind in Deutschland vier bis sechs Prozent der Bevölkerung von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen. Der Markt an Einrichtungen, die Therapien und Förderung anbieten, ist groß. Auch in Hagen gibt es derartige Einrichtungen wie das LRS-Zentrum oder das Centrum für Legasthenie Therapie.

Medizinisches Fachdeutsch, mit dem vermutlich jeder so seine Schwierigkeiten hätte, der von sich sagt, dass er eine sichere Rechtschreibung habe. Das Erstaunliche daran ist: Heike Steinhauer ist Legasthenikerin. Sie hat eine Lese- und Rechtschreibstörung. Was im Kindes- und Schüleralter vor allem auch ein psychisches Problem gewesen ist, spricht sie nun offen aus. „Ich habe meinen Weg gefunden“, sagt Steinhauer.

Das Wort „Geburtstag“ ist so eine Klippe. „Ich habe das schon tausendmal geschrieben und gelesen“, sagt Heike Steinhauer und muss dabei lachen. Denn oft genug schleicht sich ein Fehler immer wieder in dieses Wort. Entweder fehlt ein Buchstabe oder Silben werden verdreht. Heike Steinhauer nimmt es heute mit Humor: „Da sind Geburtstagskarten dann natürlich manchmal eine echte Herausforderung. Dazu versuche ich natürlich, mich einfach kurz zu fassen.“ Je weniger Worte, desto weniger Fehler.

Guter Chef schenkt Vertrauen

Aber wie geht das bei der Arbeit? „Nun ja, das fängt mal mit einem guten Chef an. Der vertraut mir nämlich und lässt mich in Ruhe arbeiten. Wenn er die Dokumente später gegenliest, fallen natürlich immer mal wieder Fehler auf, aber ich bin da im Laufe der Jahre immer besser geworden“, sagt Heike Steinhauer.

Die Dyskalkulie

Abzugrenzen von der Legasthenie ist die Dyskalkulie. Laut Bundesverband erschwere sie den Lernprozess der Kinder erheblich. Meist fehle das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, die für das Erlernen der Grundrechenarten notwendig seien.

Zahlen würden bei der Dyskalkulie oft nur als reines Symbol verstanden, nicht als Mengenangabe. „Damit fehlen den Kindern wichtige Grundlagen, um die Lernschritte in der Mathematik zu verinnerlichen“, so der Bundesverband auf seiner Homepage.

Das Hauptdefizit, so der Bundesverband, von Dyskalkulie sei die mangelnde Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Viele weitere Informationen und Hilfen gibt es im Internet auf der Homepage des Verbandes unter
www.bvl-legasthenie.de

„Dazu kommt aber auch, dass ich mir so eine Art Baukasten-Prinzip angeeignet habe, mit dem ich sicher schreiben kann. Dazu gehören Begriffe, die immer wiederkehren und Formulierungen, die man so oder so ähnlich immer wieder benutzen kann“, sagt Heike Steinhauer.

Wenn es in dieser Serie um „Tabus“ geht, dann trifft das Wort eigentlich ziemlich genau den Umgang mit Legasthenikern in den Jugendjahren von Heike Steinhauer. Denn das Thema, so erinnert sie sich, wurde irgendwie totgeschwiegen. Dass es Kinder geben soll, die einfach nicht korrekt lesen oder schreiben lernen können, war undenkbar. Lehrer waren nicht auf derartige Schwächen vorbereitet – wenn sie sie denn kannten. Die Folge: Diktate mit mindestens 30 Fehlern, grauenhafte Minuten vor der ganzen Klasse an der Tafel und ganz einfach Angst und Furcht, Menschen mal etwas zu schreiben.

Was sind „Blumento-Pferde“?

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Heute schreibt Heike Steinhauer nicht nur ihre Dokumente und Briefe bei der Arbeit. Sie liest auch ganze Romane. „Da sind immer wieder Stellen dabei, wo ich einfach drei-, viermal nachlesen muss, um ein Wort zu verstehen. Der Klassiker ist auch darunter: Blumentopferde. „Ich habe mich schon oft gefragt, was Blumento-Pferde sind?“, sagt Steinhauer. Sie sei gut durch ihre Ausbildung gekommen als jüngere Frau. Übrigens auch, weil die Prüfer von ihrer Lese-Rechtschreibschwäche wussten und es somit letztlich um die Korrektheit des Inhaltes der Arzthelferausbildung ging – und nicht um die Korrektheit einzelner Buchstaben. „Wenn das so ist, dann fühlt man sich auch viel sicherer und traut sich viel mehr Dinge zu“, sagt sie.

„Dann ist es letztlich auch kein Tabu mehr, sondern ein ganz normaler Teil von einem selbst, für den man ja schließlich auch nichts kann.“