Hagen. Als Kind ist Helmut Ullrich in einen Kanal gestürzt und drohte zu ertrinken. Sein Vater rettete ihn. Seither ist der Hagener Nichtschwimmer.
Diese Geschichte hat lustige Momente. Sie hat aber auch tragische Züge. Und es gibt einen Augenblick, in dem ein zwölfjähriger Junge die Bombe platzen lässt, weil es für ihn in diesem Moment um Leben und Tod geht. Gestatten: Helmut Ullrich, Gerichtsreporter für unsere Zeitung, Nichtschwimmer. Lange Jahre hat er niemandem davon erzählt. Jetzt bricht er mit diesem Tabu.
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Rückblick: Der kleine Helmut – Vater Bundesbahndirektor, Mutter Bühnensängerin – wächst auf mitten im Kohlenpott. An den Wochenenden wirft der Papa, Mitglied in mehreren Eisenbahner-Angelvereinen, gern die Rute aus. Mal an Kanälen im beschaulichen Münsterland, mal an einem Schlossgraben, manchmal auch am Baldeneysee oder an einem der Kanäle mitten im Ruhrgebiet.
Ein Sturz in die Tiefe
So wie an jenem Tag im Jahr 1962, an dem Helmut mit Vater, Onkel und Cousin in Dortmund angelt. Die Kinder toben umher. Und plötzlich passiert, was nicht passieren darf: Der vierjährige Helmut Ullrich kommt dem Rand zu nah, er stürzt eine meterhohe Spundwand hinab und klatscht bäuchlings auf die Wasserfläche. Helmut kann nicht schwimmen.
„Ich habe noch den Knall in den Ohren, ich bin untergetaucht, habe Wasser geschluckt, die Wellen brachen über mir zusammen“, sagt Helmut Ullrich. „Das kam mir ewig lang vor. 20 bis 30 Sekunden – mindestens.“
Das Kind bangt um sein Leben
Das Kind bangt um sein Leben, es kämpft, es strampelt, es sinkt hinab. Bis es plötzlich von einer Hand gepackt und an die Oberfläche gerissen wird. „Mein Vater ist mit Klamotten in den Kanal gesprungen“, sagt Helmut Ullrich, „ich erinnere mich noch, dass ich den Himmel sehe. Dann werde ich wieder wach und liege im Krankenhaus.“
Es ist ein einschneidendes Erlebnis. Eines, im dem ein Kind sich dem Tode ganz nahe fühlt und eines, das Helmut Ullrich bis heute nicht vergessen kann. „Seit jenem Tag habe ich ein gestörtes Verhältnis zum Wasser“, sagt er, „zumindest, wenn ich hinein soll und nicht stehen kann.“
„Ich kenne keine hoffnungslosen Fälle“
Wenn es um das Thema Schwimmen geht, ist Nadine Hemesath von Hagenbad eine wahre Expertin. Also mal die positive Botschaft vorweg: „Nahezu jeder Mensch, der ein bisschen Disziplin mitbringt, kann auch das Schwimmen lernen. Allerdings können wir niemandem versprechen, dass das innerhalb einer gewissen Zeit klappt.“
Auch nicht in den Kursen, die Hagenbad immer wieder im Westfalenbad speziell für Erwachsene anbietet. „Die sind immer gut nachgefragt“, sagt Nadine Hemesath. „Es gibt viel mehr Erwachsene, die nicht schwimmen können, als man vielleicht annimmt. Zu uns kommen 16-Jährige, viele, die tatsächlich einmal schlimme Erfahrungen mit Wasser gemacht haben, aber auch die 80-Jährige, die so gerne mit ihren Enkelkindern ins Wasser steigen möchte.“
Feingefühl gefragt
Viele Frauen mit Migrationshintergrund besuchen die Schwimmkurse. Ebenso wie viele Menschen, die nach dem Krieg in Deutschland groß geworden sind. Für alle gilt: „Als sie Kind waren, war es ihnen verboten zu schwimmen, oder das Schwimmen hat einfach keine große Rolle gespielt“, sagt Nadine Hemesath.
Feingefühl ist in den Kursen gefragt. Denn letztlich sei das Schwimmen-Lernen bei Erwachsenen vor allem Kopfsache. „Die körperlichen Voraussetzungen bringen Erwachsene in aller Regel mit, die Bewegungen lernen sie schnell“, so Nadine Hemesath, „aber besonders, wenn sie negative Erfahrungen gemacht haben, geht es darum, Ängste vor dem Wasser zu überwinden.“
Sanfter Einstieg
Also ist es ein sanfter, ein vorsichtiger Einstieg nötig. Die Erwachsenen spritzen einander nass. Sie lernen, mit dem Kopf unterzutauchen. „Wir nutzen Hilfsmittel wie beispielsweise Schwimmnudeln“, sagt Nadine Hemesath. „Hoffnungslose Fälle kenne ich nicht.“
Immer donnerstags treffen sich die Erwachsenen Schwimmschüler im Westfalenbad – eigentlich. Denn: „In der Corona-Krise gibt es aktuell dieses Angebot nicht“, sagt Nadine Hemesath.
Weitere Infos finden Interessierte unter www.westfalenbad.de/kurse/#Erwachsenenkurse
Der junge Helmut Ullrich soll trotzdem schwimmen lernen – so haben es seine Eltern beschlossen. Und melden ihn in einem Kursus bei der DLRG an. „Ich weiß noch, wie im Hallenbad alle um mich herum auf ihren Schwimmbrettern waagerecht im Wasser lagen“, sagt Helmut Ullrich, „nur ich habe mich nicht getraut. Ich musste den Boden unter den Füßen spüren. Ich hatte Angst, dass das Wasser wieder über mir zusammenstürzen würde.“
Ein Anlauf in der Schule
Einen nächsten Anlauf soll Helmut Ullrich in der Schule nehmen – Schwimmen steht in Klasse fünf auf dem Stundenplan. Donnerstags in den letzten beiden Stunden. „Das war ein Schock für mich“, sagt Helmut Ullrich. „Ich habe aufgezeigt und gefragt, ob ich auch normalen Sport wählen könne. Das ging aber nicht.“
Helmut Ullrich hat Angst, zum Gespött der ganzen Schule zu werden. Er sucht nach einem Ausweg – tagelang. Und er findet ihn. Am Tag der ersten Schwimmstunde wickelt sich Helmut Ullrich eine Mullbinde um den Arm. „Ich musste mich an den Rand setzen, während die anderen geschwommen sind“, sagt Helmut Ullrich. „Und ich hatte eine Woche Zeit gewonnen.“
Auch in Woche zwei steigt Helmut Ullrich nicht ins Becken. Wieder kommt er mit Verband. Und ab der dritten Woche erscheint er gar nicht mehr. „Der Lehrer war neu, kannte mich nicht“, sagt Helmut Ullrich, „der hat ein ganzes Halbjahr nicht bemerkt, dass jemand fehlt.“
Das Kartenhaus fällt erst zusammen, als der Schwimmlehrer am Ende des Schuljahres Zeiten stoppen und Noten vergeben will. Er nimmt die Namensliste und fragt: „Wer ist Helmut Ullrich?“ Niemand antwortet. Die Klassenlehrerin verdonnert ihn dazu, nachträglich ein Attest vorzulegen.
Der Zufall hilft
„Selbst wenn ich es hätte besorgen können – so hätte das doch bedeutet, dass ich im nächsten Halbjahr hätte schwimmen müssen“, sagt Helmut Ullrich. Der Zufall hilft dem Elfjährigen: Am Schwarzen Brett werden Mitglieder für eine jahrgangsübergreifende Ruder-AG gesucht. Helmut meldet sich, wird genommen und darf in Halbjahr zwei ins Boot steigen. „Nach dem Attest hat nie wieder jemand gefragt“, sagt er, „und dass ich nicht schwimmen konnte, habe ich niemandem verraten.“
Dabei bleibt es auch… Bis zu jenem Tag, an dem der Lehrer, der die Ruder-AG leitet, mit der Botschaft überrascht: „Heute üben wir das Kentern.“
In diesem Moment bricht für Helmut Ullrich von einer Sekunde auf die nächste alles zusammen. „Ich hatte Angst um mein Leben“, sagt er, „also habe ich all meinen Mut zusammengenommen und mich dem Lehrer anvertraut. Der aber hat sich nur aufgeregt, dass ich so lange als Nichtschwimmer gerudert bin. . .“
Was folgt, ist ein Elterngespräch an der Schule. „Was da genau vereinbart wurde, weiß ich bis heute nicht“, sagt Helmut Ullrich. Tatsache jedoch ist: Er wird vom Schwimmen befreit.
Thema holt Helmut Ullrich ein
Einmal allerdings soll Helmut Ullrich das Thema doch noch einholen. „Das war als junger Erwachsener“, sagt er, „wir waren in der Disco. Und plötzlich kam die Idee auf, dass wir ja noch über den Zaun in Freibad einsteigen könnten, um ein paar Bahnen zu schwimmen.“ Helmut denkt sich einen Vorwand aus, bleibt im Auto. Und als seine Freunde gerade planschen, erstrahlen plötzlich Scheinwerfer taghell. „Jemand hatte die Polizei alarmiert“, sagt Helmut Ullrich, „40 bis 50 Jugendliche, die ich überwiegend nicht kannte, waren im Wasser und mussten raus. Ihre Personalien wurden aufgeschrieben.“
Seine Freunde landen sogar wegen Hausfriedensbruchs vor Gericht. Helmut Ullrich besucht die Verhandlungen. Es sind seine ersten, aber längst nicht seine letzten. Er ist unser Gerichtsreporter.