Boele. Als am 15. März erweiterte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen wurden, war das, als hätte man im Reisebüro den Stecker gezogen.
Auf seinem Beratungstisch hat Michael Schröder (54) statt seines Namensschildes ein Etikett mit der Aufschrift „Der letzte Mohikaner“ platziert. Dass er womöglich einer der letzten Vertreter einer aussterbenden Zunft sei, soll das heißen, eines Berufszweiges, der durch das Corona-Virus so stark gelitten hat wie kaum ein anderer: die Reisebranche. Gemeinsam mit Gattin Andrea führt Thomas Schröder das gleichnamige Reisebüro in Boele und gibt unumwunden zu: „Wir bluten richtig Geld. Wir haben riesige Umsatzeinbrüche zu verzeichnen.“
Als am 15. März erweiterte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen wurden, war das, als hätte man im Reisebüro Schröder den Stecker gezogen. Von einem Tag auf den anderen blieben die Kunden aus, gab es null Buchungen, ja nicht einmal mehr Anfragen oder Beratungswünsche. Wie alle Deutschen hatten die Hagener die Lust am und auf jegliches Reisen verloren, als auf einmal ungewiss war, wo und wann man überhaupt wieder Urlaub würde machen können. Einer ausgelassenen Party folgte der große Katzenjammer.
Denn vor Corona hatte das Reisebüro in Boele eine glänzende Zeit. Der Verkauf boomte. Fernreisen, Städtereisen, Pauschalreisen, Kreuzfahrten und was ein Reisebüro sonst noch alles zu bieten hat – das Geschäft lief prächtig. Michael Schröder führt das darauf zurück, dass viele Menschen vor dem Overkill an Urlaubsangeboten im Internet kapitulieren und stattdessen wieder auf einen erfahrenen Reise-Makler wie ihn zurückgreifen.
Abrupter Einbruch
Corona bereitete der Konjunktur abrupt ein Ende. Schröders haben zwei Angestellte, die sie in Kurzarbeit schickten. Die Eheleute schlossen das Reisebüro für eine Woche, kehrten dann aber zurück. Denn es gab viel zu tun. Sehr viel.
So begeistert wie die Kunden vorher Reisen gebucht hatten, so entschlossen stornierten sie sie nun. Der Lockdown bescherte Schröders eine Menge Arbeit, verlustreiche Arbeit. Und dabei hätten sie ihren Kunden, auch wenn das oft zum Nachteil des Reisebüros gewesen sei, zum Abwarten geraten, bis der Veranstalter die Reise von sich aus absagte oder eine Kulanzlösung anbot, so dass keine Stornogebühren anfielen. „Ich möchte ja auch morgen noch in den Spiegel gucken können“, sagt Andrea Schröder und hofft darauf, dass die Kunden ihr und ihrem Mann treu bleiben.
Geballte Rückerstattung
Denn die Kasse des Reisebüros ist fast leer. Und spätestens im Oktober wird sie sich wohl vollends leeren, denn die TUI hat angekündigt, in diesem Monat geballt alle Provisionen zurückzufordern. Schröders vermitteln natürlich zahlreiche Reisen und streichen dafür Gebühren ein, die sie meist schon bei Vertragsabschluss erhalten. Einen rechtlichen Anspruch auf die Provision haben sie jedoch erst, wenn die Reise angetreten wird. Da wegen Corona zahlreiche Reisen storniert wurden, muss das Reisebüro also auch die Provisionen zurückerstatten – man kann sich leicht denken, dass das an die Existenz geht, wenn Branchenführer TUI alles auf einmal zurückfordert. „Auf diesen Tag müssen wir uns vorbereiten“, sagt Michael Schröder nachdenklich.
Dieses Jahr könne er noch überstehen, meint der Reisekaufmann, der für die Büroräume in der Kirchstraße keine Miete zahlen muss, denn das Haus gehört ihm. Um über die Runden zu kommen, hat er seine private Altersversorgung aufgelöst, und den eigenen Familienurlaub auf Lanzarote haben Schröders gestrichen. Doch wenn sich der Markt 2021 nicht erhole, müsse er überlegen, ob es Sinn mache, das Geschäft weiterzuführen, sagt er.
Und bei allem Geld, das er geblutet habe, und allen schlaflosen Nächten und seiner Psyche, die sich durch Corona verändert habe: „Die Malediven erholen sich, und Venedig erholt sich, und Rothenburg ob der Tauber erholt sich.“ Überall erholt sich die Natur und erholen sich die Landschaften. Er habe schon vorher versucht gegenzusteuern, sagt Schröder. Ein Flug für 9,99 Euro sei schon immer pervers billig gewesen. Und wenn Corona etwas Gutes zu bedeuten habe, dann vielleicht, dass der Tourismus zukünftig mit mehr Wertschöpfung und Rücksicht betrieben werde, hofft er.
Auch nach Corona.
Info: Die ersten Wikinger-Gruppen gehen auf Reisen
Beim Hagener Veranstalter Wikinger Reisen, der im März wegen der Corona-Krise 71 Mitarbeiter entlassen hatte, ist Ende Juni die erste Wikinger-Gruppe seit drei Monaten gestartet. Im Juli sollen 100 weitere Gruppen folgen.
Rund 22.000 Gästen hat das Unternehmen bisher absagen müssen, viele weitere Absagen folgen noch, da zahlreiche Länder als Ziele weiterhin ausfallen. Abgesagte Reisen werden erstattet bzw. umgebucht.
Für das laufende Geschäftsjahr erwartet Wikinger einen Umsatzrückgang um bis zu 75 Prozent. Angeboten werden wieder alle Reisen, die nachgefragt und machbar sind. Die Gruppen im Juli sind unterwegs in Deutschland, Österreich, Südtirol, Osteuropa, Dänemark und auf dem spanischen Festland.
Die große Angst vor der Insolvenz
44 Prozent der heimischen Reiseunternehmen befürchten ihr Aus
Eine Konjunktur-Blitzumfrage der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK) hat jüngst ergeben, dass besonders die Reisewirtschaft in Hagen und Südwestfalen extrem hart von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen ist. Unser nebenstehender Bericht über das Reisebüro Schröder steht somit repräsentativ für eine Vielzahl an Unternehmen, die auf Soforthilfen des Landes angewiesen sind, Kurzarbeit angemeldet haben oder teilweise den absoluten Umsatzrückgang erleben mussten.
Während über alle Branchen hinweg etwa acht Prozent der Unternehmen berichten, kurz vor einer Insolvenz zu stehen, sind es in der Reisewirtschaft 44 Prozent. Fast jedes zweite Unternehmen also. Laut Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbandes, habe sich die wirtschaftliche Lage der Reisebranche im Zuge der Corona-Krise verschärft. Er sprach zuletzt von Umsatzeinbußen von fast 11 Milliarden Euro von deutschen Reisebüros und Reiseveranstaltern – allein bis Ende Juni.