Hagen/New York. Bereits seit 27 Jahren lebt die Hagenerin Silke Winter-Silverstein (52) in New York. Doch die Corona-Krise ist für sie eine besondere Erfahrung.

8,4 Millionen Menschen auf engstem Raum, gerne bezeichnen sich die New Yorker ganz unbescheiden als die Metropole der Welt. Doch in diesen Tagen ist die Stadt, die niemals schläft, vor allem eines: die Hauptstadt der Corona-Pandemie. Etwa 145.000 bestätigte Infektionen und mehr als 11.000 Todesfälle sprechen eine erschreckende Sprache. Mittendrin lebt Silke Winter-Silverstein aus Hagen. Die 52-Jährige, die 1993 als Studentin den Weg in die USA suchte, hat mit ihrer Familie inzwischen die Flucht aufs Land ergriffen und blickt im Interview mit der Hagener Stadtredaktion auf jene Stadt, aus der in Deutschland zurzeit nur erschreckende Bilder in die Wohnzimmer flimmern.

Wie geht es Ihnen – sind Sie und die Familie fit?

Silke Winter-Silverstein Also bei uns ist alles super, und ich bin optimistisch, dass wir uns das Virus nicht einfangen. Wir sind eine eher konventionelle Familie: Mein Mann arbeitet, ich bin zu Hause und unsere Söhne gehen noch zur Schule. Wir können daher nicht das Risiko eingehen, dass mein Mann kein Geld mehr verdienen kann. Er arbeitet als Kunsthändler in einer Galerie. Daher bin ich zuletzt auch nur alle zehn Tage einkaufen gegangen, und ansonsten sind wir zu Hause geblieben. Vor vier Wochen haben wir dann New York verlassen und sind aufs Land geflohen. Wir sind in der glücklichen Lage, eine Stunde von New York City entfernt ein Haus zu besitzen, wohin wir ausweichen können. In der Stadt möchte ich in der jetzigen Lage nicht sein. Es ist schon erschreckend, mit ansehen zu müssen, wie die Menschen dort krank werden.

Was bekommen Sie aktuell vom Leben in New York mit?

Ich war in den vergangenen Wochen nur zweimal in der Stadt, um zu gucken, ob bei uns zu Hause alles in Ordnung ist und um den Briefkasten zu leeren. Außerdem wollte unser älterer Sohn unbedingt seine Freundin sehen. Das soll man zwar nicht, aber deren Familie ist noch viel vorsichtiger als wir. Denn die leben noch mit ihrer über 90-jährigen Großmutter zusammen, die bereits den Holocaust erlebt hat. Da will man selbstverständlich auf gar keinen Fall das Virus in die Familie tragen.

Heimatliebe geht durch den Magen

Urlaub – Berge oder Meer?

Ich kann mich nicht entscheiden: Urlaub immer in Europa. Erst die Eltern besuchen, dann eine Stadt, dann Meer – letzten Sommer zum Beispiel Santorin und Athen.

Schwarzbrot oder Sauerkraut?

Sauerkraut mit Kartoffelbrei zum Mittagessen. Und knuspriges frisches Landbrot mit dick Butter oder noch besser im Winter Gänseschmalz und Harzer Käse.

Bruce Springsteen oder deutscher Schlager?

Musikalisch bin ich hoffnungslos in der Punk-Rock-Szene steckengeblieben. Aus der Hagener Szene lieber Extrabreit als Nena, aber eigentlich mehr „The Cure“.

Wo wohnen Sie in New York und wie stellt sich in ihrem Umfeld aktuell die Situation dar?

Wir wohnen eigentlich in West-Village in der Jane-Street direkt am Hudson River.

Parallel ein Haus auf dem Land zu haben, ist schon eine privilegierte Situation, oder?

In Amerika ist das ab einer gewissen Einkommensgruppe wirklich nicht ungewöhnlich. Wir haben ein Haus mit Swimmingpool, wohin wir uns an den Wochenenden zurückziehen können und jetzt eben auch in Corona-Zeiten leben. Das ist ein schöner Fleck mit Wald drum herum am Rande eines Landschaftsschutzgebietes. Hier sind die ganzen Talsperren, die die Wasserversorgung von New York sichern. In Deutschland gäbe es für eine solche Immobilie an diesem Platz niemals eine Baugenehmigung. Wenn das Virus in New York verrückt spielt, fühle ich mich hier mit meinen Bäumen deutlich wohler. Viele meiner Freunde sind weiterhin in der Stadt und berichten mir regelmäßig, was dort los ist. Aber jeder der kann, ist geflohen.

Amerika gilt ja für viele noch immer als das Land der Träume. Mit Blick auf das Gesundheitssystem scheint das ja nicht zu stimmen . . .

Das System ist komplett auf Profit ausgelegt. Leere Krankenhausbetten kommen dort gar nicht vor. Dadurch haben wir ja jetzt die erheblichen Probleme. Hier ist niemand auf Eventualitäten vorbereitet, weil dies das System gar nicht vorsieht. In Deutschland gibt es achtmal so viele Notaufnahme-Kapazitäten mit Beatmungsplätzen wie in Amerika. Es ist zum Teil schon die Hölle. Man muss sich ja nur die Bilder mit den Massengräbern vor Augen führen.

Wie erleben Sie die Situation in ihrem direkten Umfeld?

Bei uns um die Ecke hatten wir beispielsweise bis vor fünf Jahren noch ein Krankenhaus. Und dann ist das Hospital, weil es offenbar nicht mehr rentabel war, umgebaut worden in High-end-Apartments. Dazu ist noch ein wunderschöner Park entstanden mit einem Aids-Memorial, weil wir ja so fürchterlich politisch korrekt sind. Das einzige, was geblieben ist, ist die Notaufnahme. Und davor stehen jetzt die Kühllaster, weil sie die Toten sonst nicht mehr unterbringen können. Hinzu kommen Zelte, in denen die ganzen Kranken versorgt werden. Die Situation ist schon beklemmend.

Wie sieht die Perspektive für ihre Söhne aus? Sind die von der Schule befreit?

Nein, sie hatten bis zuletzt Osterferien. Inzwischen haben sie Remote-Schooling, der Unterricht findet also im Internet statt. Da das Schuljahr im Juni zu Ende geht, kann ich mir im Moment nicht vorstellen, dass die Kinder noch einmal in die Schule zurückkehren. Aber zu dem Thema gibt es aktuell noch einen Streit zwischen unserem Bürgermeister Bill de Blasio und Gouverneur Andrew Coumo. Das ist aber typisch für Amerika, dass der politische Streit im Vordergrund steht und es weniger um konkrete Lösungen geht.

Noch mal zu Ihrer persönlichen Situation: Fährt ihr Mann noch nach New York City, um seinem Beruf nachgehen zu können?

Nein, es ist ja weiterhin alles zu. Lediglich die Grundversorger dürfen öffnen, also ausschließlich Supermärkte und medizinische Versorger. Daher sind natürlich auch die Galerien geschlossen, und er arbeitet von zu Hause aus. Aber als Kunsthändler hat er durchaus weiterhin zu tun. Zwar haben die normalen Leute in der Mittelklasse oder auch oberen Mittelklasse im Moment ausschließlich Corona-Sorgen. Je weniger Geld die Leute verdienen, desto schwieriger wird natürlich die Situation. Unsere Putzfrau beispielsweise ruft regelmäßig an, um zu fragen, wann sie wieder arbeiten kommen kann. Für sie ist das selbstverständlich eine existenzielle Frage. Wir müssen uns hingegen nur Gedanken machen, wie wir das nächste Schulgeld bezahlen. Aber zum Kundenkreis meines Mannes gehören natürlich auch ein paar Milliardäre, die die jetzige Corona-Phase nutzen wollen, um günstige Investitionen zu tätigen. Die melden sich regelmäßig, um sich zu erkundigen, ob Leute in Not ihre Kunstwerke verkaufen müssen und somit Schnäppchen auf dem Markt sind. Umgekehrt musste er die Hälfte seiner Mitarbeiter gehen lassen. Da gibt es in Amerika keine anderen Lösungen. Es gibt lediglich für wenige Wochen etwas Arbeitslosengeld, das sind aber nur gut 400 Dollar die Woche. Von dem Geld kann man in New York noch nicht einmal ein Zimmer in einer WG bezahlen.

Green-Card bei Lotterie ergattert

Silke Winter-Silverstein (52) wurde in der Nähe von Frankfurt geboren, kam aber schon als Grundschülerin nach Hagen und legte am Ricarda-Huch-Gymnasium ihre Abiturprüfung ab.

Nach eine abgebrochenen Bank-Lehre verbrachte sie ihre Studienzeit in Münster und Bochum (Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften) und jobbte parallel in einer Werbeagentur.

1993 zog es sie schließlich nach New York, wo sie ihr Studium abschloss und bei der alljährlichen Lotterie eine Green-Card ergatterte, die ihren Verbleib in den USA sicherte.

Inzwischen hat sie eine Familie mit zwei Söhnen (11 und 17 Jahre) gegründet und schaut nach Möglichkeit zweimal im Jahr in Hagen vorbei, um ihre Eltern und den Bruder zu besuchen.

Was war für Sie der ausschlaggebende Grund, New York City den Rücken zu kehren?

Die Schule war zu, mein Mann konnte nicht mehr in die Galerie gehen, und ich hatte persönlich die reale Angst, dass wir nicht angemessen medizinisch versorgt werden, wenn wir krank werden. Diese Kombination hat letztlich dafür gesorgt, dass wir die Sicherheit der ländlichen Umgebung gesucht haben. Wir haben auch noch einen Hund. Jedesmal, wenn ich mit dem raus muss aus unserem Apartment, nutze ich den Aufzug, muss alles anfassen und begegne jeder Menge Leute. All diese Risiken habe ich jetzt nicht mehr. Als ich am vergangenen Samstag kurz zurückgekehrt bin, habe ich eine ganz andere Stadt erlebt. Es ist kein Mensch auf der Straße – irgendwie gespenstisch.

In Deutschland wurde zuletzt berichtet, dass in New York der Höhepunkt überschritten sei. Können Sie das bestätigen?

Ich kenne auch nur die Zahlen unseres Gouverneurs, und ich glaube nicht, dass er uns anlügt. Aber umgekehrt möchte ich auch gar nicht wissen, wie viele Menschen noch tot in ihren Apartments liegen. Angeblich ist der Höhepunkt tatsächlich überschritten, aber was nützt uns das, solange das Virus noch in der Stadt ist und wir auch weiterhin keine Tests kriegen. Man kann eine Stadt mit gut acht Millionen Menschen nicht einfach wieder aufmachen und hoffen, dass alles gut geht. Was soll da gut gehen? Da sind wir ganz schnell wieder dort, wo wir angefangen haben.

Das heißt, an der Situation mit den Tests hat sich nichts geändert?

Laut Gouverneur macht New York die meisten Tests überhaupt. Aber wir sind eben auch ein Haufen Leute. Die Tests bekommst man wirklich nur dann, so berichten meine Freunde, wenn man auch Corona hat, also wenn man schwer krank ins Krankenhaus geht. Wer nur von Symptomen berichtet, erhält den Hinweis, zu Hause zu bleiben und auf sich aufzupassen, damit niemand angesteckt wird. Die Gruppe, die am meisten betroffen ist, sind natürlich die älteren Menschen. Und natürlich die Armen und Farbigen in Harlem und in der Bronx.

Wie beurteilen Sie die Rolle von Donald Trump als Krisenmanager?

Der macht ja nichts, außer sich mit den Gouverneuren herumzustreiten. Kein Mensch hier hat das Gefühl, in guten Händen zu sein. Die Krise hat die tiefen Gräben zwischen Republikanern und Demokraten noch weiter verschlimmert.

Ist es nicht eine Bankrotterklärung, wenn man über seine Heimat sagen muss, dass man sich nicht gut aufgehoben fühlt?

Natürlich. Aber das Gefühl habe ich als jemand, der aus einem Land kommt, in dem es klare Gesetze und funktionierende Sozialsysteme gibt, noch nie gehabt. Aber es gibt immer noch genügend Leute, die an den amerikanischen Traum glauben, obwohl auf der anderen Seite Menschen vor Armut sterben. Aber ich fürchte, daran wird auch Corona nichts ändern. Das ist wie ein Kult, den ich bis heute nicht wirklich verstehen kann. Als ich hierher gekommen bin, war ich jung und habe New York natürlich als eine ganz tolle Stadt wahrgenommen. Aber wenn man Familie und Verantwortung hat, ändert sich die Perspektive.

Hat man in Corona-Zeiten das Gefühl, lieber Hagener als New Yorker zu sein?

Ich würde jetzt gerne ja sagen. Aber natürlich bin ich schon lange in New York, und hier leben auch alle meine Freunde. Aber geborgener würde ich mich in Corona-Zeiten sicherlich in Hagen fühlen. Es ist ja auch kein Zufall, dass man in Deutschland die Kanzlerin auch „Mutti“ nennt. Sie gibt einem ja schon das Gefühl, dass sie nur das Beste will, zumindest das, was sie dafür hält. Da ist unser kleiner US-Diktator ganz anders. Der will ja wirklich nur das, was für ihn das Beste ist.

Sehen das die anderen Amerikaner auch so?

Diejenigen, die aus meiner Ecke sind, also Demokraten, finden Merkel total super. Als es in Amerika mit dem Coronavirus losging, war nicht bloß das Toilettenpapier ausverkauft, sondern auch die Knarren. Die haben vor den Läden Schlange gestanden. Das sagt doch eine Menge über das Gesellschaftssystem aus.