Hagen. Erst hat er eine Abfahrt nicht bemerkt, irgendwann seinen eigenen Sohn nicht mehr erkannt. Josef Müller leidet an Demenz. Seine Frau pflegt ihn.
Manchmal blickt er durch das Fenster hinaus in den Garten. Er sieht die Pflanzen und erfreut sich einfach an der Schönheit der Natur. Manchmal streichelt er Flocke durch das Fell und sagt ganz liebevoll: „Du bist doch mein Freund.“ Manchmal beglückt ihn auch einfach nur das Essen. „Wenn ich ihm den Teller hinstelle, guckt er darauf und meint dann zu mir: Was machst du das immer schön...“, erzählt Hannelore Müller.
Und dann gibt es da diese anderen Augenblicke. Bittere. Ernüchternde. Verstörende. Momente, in denen es scheint, als würde er einfach einen Schalter umlegen. Einen Schalter, von dem nur er weiß, wo er sich befindet. Dann schreit er seine Frau wie aus heiterem Himmel an: „Hau ab, ich will dich nicht sehen.“
Diagnose vor sieben Jahren
Diagnose Demenz – sieben Jahre ist das jetzt her. Josef Müller, 82 Jahre alt, hat damals zur Kenntnis genommen, was die Ärzte ihm und seiner Frau gesagt haben. Begriffen hat er es bis heute nicht. „Er ist der festen Überzeugung, dass er nicht krank ist“, sagt Hannelore Müller, die ihren Mann pflegt. „Das macht es ja so schwer.“
Vor der Diagnose lagen Tage, lagen Monate, gar Jahre des Ärgers und des Streits. „Ich erinnere mich noch, wie wir über die Autobahn gefahren sind“, sagt Hannelore Müller. „Josef war an einer Abfahrt vorbeigerauscht. Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er steif und fest behauptet, da sei gar keine Ausfahrt gewesen. Das war der Anfang. Ich konnte das gar nicht einordnen...“
Kurzzeitgedächtnis setzt schnell aus
Die Situation wird schlimmer. Josef Müller zieht sich immer häufiger zurück. „Dinge, die ihm immer Spaß gemacht haben, haben ihn plötzlich gar nicht mehr interessiert“, sagt Hannelore Müller, „über zwei Jahre hinweg hat sich das gezogen. Es gab immer wieder Zoff. Das war eine schlimme Zeit.“
Nach einem Besuch beim Neurologen wird bittere Gewissheit, was Hannelore Müller schon geahnt hat. „Die Krankheit – das habe ich schnell gelernt – ist unheimlich vielschichtig“, sagt sie, „jeder Kranke ist anders. Bei meinem Mann hat das Kurzzeitgedächtnis schnell ausgesetzt. Aber diese Veränderung hat nicht er, die habe nur ich gespürt.“
Ein Heim ist für Hannelore Müller keine Alternative
Es kommt der Tag, an dem Hannelore Müller sich dazu entscheidet, sich selbst um ihren Mann zu kümmern, ihn zu pflegen. „Ihn in ein Heim zu geben – das hätte sich für mich nicht richtig angefühlt, das hätte ich nicht gekonnt“, sagt sie. „Er hat es verdient, dass ich mich zu Hause um ihn kümmere. Es ist einfach eine andere Art des Zusammenlebens. Ich will ihn bei mir haben, so lange ich noch die Kraft dazu habe.“
Diese Kraft, sie schwand irgendwann mehr und mehr. Hannelore Müller geriet an ihre eigene Grenze – körperlich, aber vor allem auch psychisch. „Zu der Demenz kommen mittlerweile die körperlichen Probleme meines Mannes“, sagt sie. „Irgendwann war ich völlig überfordert.“
An jedem Samstag zusammen in der Kirche
Dreimal in der Woche besucht Josef Müller eine Tagespflege. „Bis ich dazu bereit war, das war ein Prozess“, sagt Hannelore Müller, „anfangs war es nur an einem Tag in der Woche. Das hat es nicht besser gemacht, weil ich dann immer alles Wichtige auf diesen einen Tag gepackt habe. Aber jetzt habe ich Momente, in denen ich mal richtig durchschnaufen kann.“
Selbsthilfegruppe
In Hagen gibt es eine Alzheimer-Demenz Selbsthilfegruppe, sie wird als Verein geführt.
Ansprechpartnerin ist die
1. Vorsitzende Claudine Scharfenberg, Kölner Str. 16, 204- 67 58, Mail: claudinescharfenberg@gmx.de
Man trifft sich im Gemeindehaus der Ev. Paulusgemeinde, Borsigstraße 11 in Wehringhausen, jeden ersten Montag im Monat von 19 bis 21 Uhr. Die Betreuungsnachmittage finden an jedem 2. und 4. Donnerstag im Monat in der Zeit von 16 bis 19 Uhr ebenfalls im Gemeindehaus statt.
Aber das Ehepaar ist auch weiterhin gemeinsam unterwegs. „Wir gehen jeden Samstag zusammen in die Kirche, das gibt mir Kraft. Ich nehme Josef mit, wenn ich Freunde besuche“, sagt Hannelore Müller, „andere mögen sich zurückziehen. Aber ich habe nie ein Geheimnis um diese Krankheit gemacht. Nur so haben unsere Freunde ja auch sein Verhalten in bestimmten Situationen verstehen können. Wenn sie ihn begrüßen, wenn er dann strahlt – dann macht mich das auch froh. Abends sagt er dann manchmal: ,Das war aber ein toller Tag’.“
Die Sehnsucht nach seiner Heimatstadt
Seine Frau erkennt Josef Müller noch. Seinen Sohn hält er für seinen Bruder. „Ich widerspreche da nicht“, sagt Hannelore Müller, „ich lasse ihn einfach in seiner Welt. Auch wenn er eigentlich Quatsch erzählt. Ich bestärke ihn, wenn er sein Elternhaus in unserem Garten entdeckt."
Es gibt sie – diese schönen Momente. „Dann sitzen wir zusammen am Tisch“, sagt Hannelore Müller, „Wir spielen ,Mensch, ärgere dich nicht’ oder Kniffel. Josef erzählt oft Dinge, die auf einen Fremden so wirken würden, als seien sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Aber ich, ich weiß, was er meint.“
Dann blickt er auf ein Bild, das im Wohnzimmer an der Wand hängt und den Desenberg bei Warburg, seiner Heimat, zeigt. „Da will ich noch einmal hin“, sagt Josef Müller dann. Und seine Frau nickt.