Hagen. Der Alltag in Hagen war zwischen 1850 und 1960 kolonial geprägt. Wissenschaftler der Fernuniversität haben erstaunliche Fakten zusammengetragen.

Die Epoche des Kolonialismus verbindet man nicht gerade mit Hagen. Und doch haben Menschen aus dieser Stadt in jenem Jahrhundert von 1850 und 1960 zahlreiche Spuren in vielen Teilen der Welt hinterlassen und koloniale Zeitgeschichte erlebt, wenn nicht geschrieben.

Burkhart Waldecker hat die südlichste Quelle des Nils entdeckt, Helmut Erlinghagen war Zeuge der Atombombenexplosion in Hiroshima, Heinrich Wieschhoff brachte es zum engsten Mitarbeiter des UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld und starb mit diesem, Heinrich Waltenberg war Bischof in Tansania. „In Hagen war bislang eigentlich nur das Konzept der Weltkunst von Karl-Ernst Osthaus bekannt“, berichtet Dr. Fabian Fechner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt der Fernuniversität Hagen: „Doch im Zeitalter des Kolonialismus haben zahlreiche Hagener Kontakte ins Ausland geknüpft, sind weit gereist oder gar ausgewandert.“

Haben über Hagens Verbindungen zum Kolonialismus geforscht (vl.): Barbara Schneider, Dr. Fabian Fechner, Christiane Eilers, Ute Kemmerling sowie Prof. Jürgen G. Nagel
Haben über Hagens Verbindungen zum Kolonialismus geforscht (vl.): Barbara Schneider, Dr. Fabian Fechner, Christiane Eilers, Ute Kemmerling sowie Prof. Jürgen G. Nagel © WP | Michael Kleinrensing

Gemeinsam mit seiner Kollegin Barbara Schneider und 23 Studenten hat Fechner die Verbindungen zwischen Kommune und Kolonialismus erforscht und dabei verblüffende Erkenntnisse gesammelt. Anders als heute war Hagen im 19. Jahrhundert keine Einwanderungs-, sondern eine Auswanderungsstadt. „Die große Not, die in Deutschland herrschte, trieb überall Menschen dazu, nach Übersee zu gehen“, so Fechner.

Polizeimeister in Neuguinea

Um sich in die Atmosphäre jener Zeit hineinversetzen zu können, wühlten sich Barbara Schneider und Fabian Fechner mit ihren Studenten durch das Hagener Stadtarchiv, das Archiv des Heimat- und das des Osthaus-Bundes, sie sichteten Quellen, blätterten alte Zeitungsausgaben durch und sortierten Fotos. So gelang es ihnen, die lokale, alltagsgeschichtliche Verankerung des Kolonialismus in Hagen aufzuzeigen. „Der Kolonialismus war allgegenwärtig im Leben der Bevölkerung“, berichtet Barbara Schneider: „Er war weder ein exotisches Phänomen noch eine Randnotiz.“

Hasper Straßenkarneval in den 1920er Jahren: Rückgabe der im Ersten Weltkrieg verlorenen Kolonien gefordert.
Hasper Straßenkarneval in den 1920er Jahren: Rückgabe der im Ersten Weltkrieg verlorenen Kolonien gefordert. © Schrade / Hagener Heimatbund | Fernuni Hagen

Mehrere hundert, wenn nicht mehrere tausend Hagener waren im 19. Jahrhundert Mitglied in einem kolonialen Verein, etwa der Deutschen Kolonialgesellschaft, vor der auch Karl-Ernst Osthaus einmal einen Vortrag hielt. Der Fabrikantensohn und Kulturmäzen konnte beim Sammeln von Exponaten aus aller Welt auf Beziehungen aus seinem Bekanntenkreis zurückgreifen. So ließ er sich Holzskulpturen aus Deutsch-Neuguinea, das seit 1899 deutsche Kolonie war, von dem Hagener Franz Wiesner, der dort als Polizeimeister Dienst tat, schicken.

Exzentrischer Lebenslauf

Kolonien, Schutzgebiete oder Besitzungen besaß das Deutsche Reich überall in der Welt, etwa in Afrika, der Südsee oder Fernost. Und oftmals spielten Hagener in den deutschen Überseegebieten eine mehr oder weniger bemerkenswerte Rolle. Einigermaßen exzentrisch ist der Lebenslauf von Maximilian Brechtefeld (1850 bis 10933) aus dem gleichnamigen Dörfchen in den Hagener Bergen, den es an die Lagunen und weißen Sandstrände des Südseeatolls Kiribati verschlug, wo er mit fünf Frauen 19 Kinder zeugte. Noch heute tragen in der Inselrepublik Menschen den Namen Brechtefeld. „Im Grunde eine irreale Geschichte, und doch hat es sie wirklich gegeben“, ist selbst Historiker Fechner verblüfft über die von ihm ans Licht gebrachte Biographie.

Burundische Briefmarke von 1970 mit der Aufschrift „Waldecker 1937
Burundische Briefmarke von 1970 mit der Aufschrift „Waldecker 1937". © FernUni | Fernuni Hagen

Obwohl Deutschland als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg alle Kolonien aufgeben musste, tummelte sich so mancher Hagener weiterhin in Übersee. Burkhart Waldecker, geboren in der Bergstraße, drang 1937 unter kaum vorstellbaren Strapazen zum Ursprung des Weißen Nils in Belgisch-Kongo vor. An der eigentlichen Quelle des längsten Flusses der Erde errichtete er eine meterhohe Pyramide aus Feldsteinen, die sich noch heute an Ort und Stelle befindet und eine wichtige touristische Attraktion in Burundi darstellt, auf dessen Staatsgebiet sie steht. Und während Waldecker in Deutschland und erst recht in Hagen nie die ihm zustehende Popularität gewann, ehrte ihn Burundi gar mit einer Briefmarke.

Betrogen von einer Schlepperbande

Oder der betrügerische Hagener Bund für Siedlung in Brasilien, eine Art koloniale Schlepperbande, der mehrere Familien auf den Leim gingen. Sie verkauften 1924 ihr Hab und Gut und fuhren nach Hamburg, um von dort aus über den Ozean nach Südamerika auszuwandern, wo sie ihr Glück machen wollten. Anders als man ihnen vorgegaukelt hatte, war die Schiffspassage jedoch keineswegs bezahlt. Also mussten die geprellten nach Hagen zurückkehren, wo sie in einer Jugendherberge notdürftig unterkamen.

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Stadtführung, Buch und Stadtplan zur kolonialen Vergangenheit

Barbara Schneider und Dr. Fabian Fechner sind wissenschaftliche Mitarbeiter im Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt an der Hagener Fernuniversität. Inhaber des Lehrstuhls ist Professor Jürgen G. Nagel.

Noch heute sind „koloniale Spuren in Hagen“ zu sehen. Wer diese kennenlernen möchte, ist herzlich zu einer kostenlosen Stadtführung eingeladen, die am Samstag, 5. Oktober, um 14 Uhr am Fuße des Rathausturms auf dem Friedrich-Ebert-Platz beginnt. Dauer: ca. zwei Stunden. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Das lesenswerte Buch „Koloniale Vergangenheiten der Stadt Hagen“ von Fabian Fechner und Barbara Schneider bietet überraschende Erkenntnisse und kann direkt in der Hagen-Info, Körnerstraße 25, abgeholt werden. Oder man wendet sich an die Adresse hagen.postkolonial@outlook.de.

Voraussichtlich Ende Oktober wird außerdem ein Stadtplan „Koloniale Spuren in Hagen“ erscheinen, der die Forschungsergebnisse der Publikation anschaulich zusammenfasst.

riegervereine, Völkerschauen, unternehmerisches Handeln in Übersee, Auswanderung Missionierung – in der Epoche des Kolonialismus war Hagen überraschend eng mit der übrigen Welt verbunden.