Hagen. Weniger auto-, sondern menschengerechte Städte will Bundesumweltministerin Svenja Schulze schaffen. Am Montagabend war sie in Hagen zu Gast.
Den etwas größeren Auftritt mag Svenja Schulze (SPD) als Bundesumweltministerin ja gewohnt sein. Doch die Stimmgewalt der Hagener Fridays-for-Future-Kids, die sie mit ihrem lautstarken Protestruf „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“ aus 70 Kehlen intonierten, beeindruckten die deutsche Ressortchefin bei ihrem Zwischenstopp auf dem Weg nach Amsterdam dann doch sichtlich. Bei der anschließenden SPD-Diskussionsveranstaltung am Montagabend im übervollen Sinfonium der Stadthalle wurde zwar längst noch nicht die Welt gerettet, aber zumindest von allen Seiten die Bereitschaft formuliert, über den Klimaschutz nicht bloß länger Bekenntnisse und Plattitüden austauschen zu wollen, sondern auch endlich in die konsequente Umsetzung vieler kleiner Maßnahmen zu kommen. Moderator Wolfgang Jörg (MdL) warb entsprechend dafür, dass Hagen als Nothaushaltsgemeinde bei künftigen Modellversuchen des Bundes als Projekt-Kommune auch einmal in den Fokus der Berliner Geld-Segnungen rückt.
Klimaneutralität bis 2050
E-Auto als Übergangslösung auf dem Weg zur Brennstoffzelle
Neben Bundesumweltministerin Svenja Schulze hatten auf dem Podium des Diskussionsabends noch Werner König (umweltpolitischer Sprecher der SPD-Ratsfraktion), Werner Flockenhaus (Hagener Straßenbahn AG), Maximilian Rohs (PwC-Berater beim Projekt „Masterplan nachhaltige Mobilität in Hagen“, Prof. Michael Schreckenberg (Mobilitätsexperte der Uni Duisburg/Essen) und Erik Höhne (Enervie-Vorstandssprecher und Mitglied der nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“) Platz genommen. Hier einige ihrer wichtigsten Aussagen und Thesen:
Werner König: Die Finanzierung des ÖPNV gilt als eine freiwillige Leistung der Kommunen, so dass in Hagen ohne Haushaltsausgleich lange keine Spielräume für diese wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe bestanden. Dass wir jetzt zum 1. Dezember 2,9 Millionen Euro mehr investieren, wurde nur möglich, indem wir über die Luftreinhaltung diese Maßnahme zu einer Pflichtaufgabe gemacht haben. Allerdings höre ich auch viele tolle Pläne zu E-Bus-Flotten. Ich frage mich, wie wir diese Mehrkosten noch finanzieren sollen.
Werner Flockenhaus: Ein E-Gelenkbus kostet etwa 700.000 bis 900.000 Euro, während ein herkömmlicher Bus für 330.000 Euro zu haben ist. Das amortisiert sich bei einer Nutzungsdauer von zwölf Jahren. Auf 65 Prozent unseres Streckennetzes ist diese Technologie nutzbar. Zum Jahresende werden wir die entsprechenden Förderanträge stellen.
Maximilian Rohs: Wir dürfen nicht den Status Quo elektrifizieren, sondern brauchen ein koordiniertes und integriertes Mobilitätskonzept für ganz Deutschland. Dabei müssen wir die Verkehrsinfrastruktur besser ausnutzen und ausbauen.
Michael Schreckenberg: E-Mobilität kann nur eine Zwischenlösung sein, die Brennstoffzelle ist die Zukunft – dafür haben wir allerdings noch keine Lösung auf dem Tisch. Vor 2050 ist dafür keine flächendeckende Infrastruktur vorhanden. Wir haben gar nicht die Ressourcen, um sämtliche Autos auf E-Mobilität umzustellen. Daher wäre Erdgas für den Übergang die bessere Lösung gewesen, hier reichen die Ressourcen für 100 Jahre.
Erik Höhne: Elektromobilität ist nicht bloß eine Frage der Autoindustrie und des Netzes, sondern vor allem der Ladeinfrastruktur. Wir kalkulieren mit einem jährlichen Wachstum von zehn Prozent. Dabei finden 85 Prozent der Ladevorgänge im privaten Bereich und beim Arbeitgeber statt. Aber auch die Brennstoffzelle bleibt im Fokus.
„Ich bin ja selbst positiv überrascht, wie das Thema Klimaschutz die Menschen bewegt“, betonte Schulze nicht bloß mit Blick auf das engagierte Empfangskomitee, Auch die deutsche Sozialdemokratie hat mit Blick auf die explodierenden Wählerzahlen zugunsten der Grünen für sich entdeckt, auf dieser politischen Erfolgswelle inhaltlich mitsurfen zu wollen. Entschlossenheit demonstrierend versprach die Hattingenerin, noch in diesem Jahr ein Klimaschutzgesetz auf den Weg zu bringen, das den Zukunftsrahmen verbindlich aufzeigt und auch die Zuständigkeiten der einzelnen Ministerressorts regelt: „Wir müssen die Treibhausneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts erreichen“, kündigte Schulze unter dem Beifall der Fridays-for-Future-Zuhörer an, die das Auditorium entlang der Saalwände mangels ausreichender Bestuhlung umsäumten.
„Der Betrug der Autoindustrie geht so nicht weiter“, platzierte sie gekonnt den nächsten Applaus-Garanten und formulierte zugleich das Ziel, die Menschen zunehmend in die Lage versetzen zu wollen, ihre privaten Autos abzuschaffen. Vor allem Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer sei gefordert, menschen- statt autogerechte Städte zu schaffen, in denen Fußgänger, Radverkehr, ÖPNV und E-Mobilität Vorrang genießen würden. „Ich möchte die Mobilität nicht einschränken, sondern verändern. Denn Mobilität bedeutet auch individuelle Freiheit und Teilhabe. Wir können das hier in Deutschland, hier sitzen doch die ganzen Tüftler – aber das dauert viel zu lange“, teilte Schulze die Ungeduld ihres jugendlichen Empfangskomitees.
Hagen in Fokus rücken
Damit diese Grundsatzbekenntnisse auch in Konkretes münden, warb auch SPD-Ratsfraktionschef Claus Rudel dafür, Hagen als eine Stadt mit einem besonders hohen Anteil an Individualverkehr als lohnenswerten Versuchsstandort der Berliner Umweltpolitik zu entdecken. Rückendeckung erhielt er dabei von Maximilian Rohs, der als Mitarbeiter der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) unter anderem den „Masterplan nachhaltige Mobilität in Hagen“ entwickelt hat. Dieser kündigte an, neben drei Landeshauptstädten auch die Stadt Hagen beim Bundesumweltamt für eines der nächsten Verkehrswende-Projekte platzieren zu wollen. Gleichzeitig sicherte Moderator Jörg den engagierten Diskutanten zu, nach der Sommerpause eine zweite Mobilitätsdiskussion veranstalten zu wollen, bei der weniger die Ausbeutung seltener Erden in Südamerika, sondern die konkrete Hagener Situation inhaltlich in den Mittelpunkt rückt. Allerdings nicht, ohne zuvor mit einer Hagener Delegation in Berlin im Hause von Ministerin Svenja Schulze vorbeizuschauen, um dort die konkreten Chancen für gezielte Förderangebote auszuloten.