Hagen. . Der Hagener Wissenschaftler Günter Müller hat ein neues Buch über das jüdische Leben in Hagen verfasst. Dr. Ralf Blank ordnet es ein.
Grabsteine schreiben Geschichte, oder besser gesagt: Sie helfen uns Geschichte zu verstehen. Für den Hagener Wissenschaftler Günter Müller sind die jüdischen Friedhöfe ein wichtiges Mittel, um die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Hagen im 19. und 20. Jahrhundert zu erforschen. Sein jetzt im Klartext-Verlag erschienenes Buch „Emanzipation, Integration, Identität“ gibt eine breite Übersicht. Das Buch fußt auf seiner Dissertation aus dem vergangenen Jahr an der Universität Paderborn. Dr. Ralf Blank, Historiker und Leiter des Fachdienstes Wissenschaft, Museen und Archive der Stadt Hagen. ordnet das Buch im Gespräch ein.
Das Buch beschäftigt sich mit der Integration der jüdischen Mitbürger in Hagen im 19. und 20. Jahrhundert. Was hat das in Hagen bedeutet? Eine Aufgabe der eigenen Identität zugunsten einer gewollten Anpassung an die Gesellschaft?
Die Familien der in Hagen lebenden Juden waren im späten 17. und während des 18. Jahrhunderts als „Schutzjuden“ ansässig geworden. Sie bedurften einer Genehmigung der preußischen Regierung, um sich in der Grafschaft Mark und in Hagen anzusiedeln, um ein Gewerbe nachzugehen. In Hagen gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit gerade einmal fünf Familien deutlich weniger Juden als im benachbarten (Hohen-)Limburg, wo 1809 insgesamt 19 Familien lebten. Dort waren mehr Juden angesiedelt worden, um die Einnahmen der gräflichen Landeskasse an Schutzgeldern und weiteren Abgaben zu erhöhen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und der Emanzipation der Juden in Preußen kehrte sich das Verhältnis um. In der aufstrebenden Stadt Hagen siedelten sich immer mehr Juden an, während die jüdischen Gemeindemitglieder in Hohenlimburg deutlich zurückging. Die Frage nach einer Identität lässt sich klar beantworten: die Juden in Hagen waren Preußen und Deutsche. Von der Aufgabe der Identität kann keine Rede sein. Vielmehr wurden die Juden rechtlich gleichgestellt und von den Repressionen und der obrigkeitlichen Diskriminierung befreit. Anpassung bedeutete für die Juden nicht Aufgabe der eigenen Identität und des Glaubens. Gerade auch im 19. Jahrhundert war es die Loslösung von Diskriminierung und vom Dasein in einer gesellschaftlichen Randgruppe. Allerdings ist in Teilen der nicht-jüdischen Bevölkerung der Antisemitismus geblieben, er ragt wie ein rostiger Nagel vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.
Man denkt, gerade das jüdische Leben müsste inzwischen historisch komplett erforscht sein: Was bietet das Buch hier Neues?
Dieser Eindruck ist falsch. Es ist bereits viel erforscht, unlängst erschien auch das Handbuch der jüdischen Gemeinden in Westfalen und Lippe, in dem Hagen und Hohenlimburg ebenfalls ausführlich behandelt wurden. Vielfach fokussiert sich die Forschung auf die Verfolgung und den Holocaust während des Nationalsozialismus. Günther Müller stellt in seinem Buch eine Gesellschaftsgeschichte der Juden in Hagen vor dem
Holocaust vor. Er vergleicht die Situation mit anderen Gemeinden und zeichnet so ein Bild der Juden während des 19. und 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Gleichstellung, Emanzipation und Anpassung. Für Hagen war eine solche Betrachtung bislang ein Desiderat. Müllers Dissertation reiht sich somit in eine Reihe von Untersuchungen ein. Sie reichen von Darstellungen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde über einzelne Aspekte des jüdischen Lebens und zum Holocaust bis hin zur Wiedergutmachungspraxis nach 1945.
Welcher Aspekt hat Sie am meisten überrascht?
Eigentlich keiner. Wie bei vielen anderen Aspekten und Themen in der Stadt- und Regionalgeschichte des Hagener Raumes ist es immer nur eine Frage der Forschungs- und Themenwahl, bis neue und bislang noch nicht erschlossene Fragestellungen geklärt werden können.
Wie stand es in Hagen vor 1933 mit dem Leben der jüdischen Mitbürger in der Stadtgesellschaft im Vergleich zu anderen Städten? Gibt das Buch hierüber Auskunft?
Im Jahr 1933 hatte die jüdische Gemeinde in Hagen etwa 650 Mitglieder. Hinzu kamen etwa 120 Personen jüdischer Abstammung, die konvertiert waren oder keiner Konfession angehörten; mindestens 40 jüdisch-christliche ‚Mischehen‘ gab es im Stadtgebiet. Innerhalb der jüdischen Gemeinde machten die Ostjuden etwa ein Drittel aus, nach Dortmund
Buch ist im Klartext-Verlag erhältlich
Das rund 600 Seiten starke Buch, das zahlreiche Anhänge und Beschreibungen umfasst, ist im Klartext-Verlag erhältlich. Es kostet 44,95 Euro (zzgl. Versanksosten) und ist bestellbar über www. klartext-verlag.de (ISBN: 978-3-8375-1940-2).
Es gehört zur Reihe „Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens“.
hatte Hagen damit in Westfalen den zweithöchsten Anteil ostjüdische Bevölkerung. Die jüdischen Gemeindemitglieder waren in der Stadt integriert und nahmen Anteil am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. So gesehen unterschied sich das jüdische Leben in Hagen nicht von anderen Städten im Deutschen Reich. Der Nationalsozialismus bedeutete für das jüdische Leben eine Zäsur. Hunderte Hagener Juden wurden ermordet, zahlreichen Juden gelang 1933 bis 1939 noch die Flucht aus dem NS-Staat. Unter ihnen waren auch Kinder und Jugendliche, zwei bekannte Beispiele sind Heinz Phillip David und Gerda Meyer-Bernstein .
Können Sie Näheres zu deren Geschichte sagen?
Heinz Phillip (später Henry Philip) David, 1923 in Hagen geboren und 2009 in Washington verstorben, war als Kind – nachdem er auf dem Hagener Gymnasium wachsendem Antisemitismus begegnet war – von seinen Eltern in die USA geschickt worden und fand Aufnahme in einer jüdischen Familie. 1942 trat er in die amerikanische Armee US-Air Force ein, in deren Auftrag er später 1945-1948 untersuchte er als Mitarbeiter des United States Strategic Bombing Survey die physischen, psychologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Luftkriegs in Deutschland untersuchte. 1951 promovierte er an der Columbia University in klinischer Psychologie. In den 1970er Jahren gründete er das ‚Transnational Family Research Institute‘ (Verhaltenswissenschaften), das mit Einrichtungen in anderen Kontinenten kooperierte. David, Professor an der Universität Maryland und Langzeitberater der Weltgesundheitsorganisation (WHO), verfasste zahlreiche Bücher und erhielt mehrfach Auszeichnungen. Die 1924 in Hagen geborene, heute in Chicago lebende Künstlerin Gerda Meyer-Bernstein gelangte im Februar 1939 mit einem der letzten jüdischen „Kindertransporte“ nach London. Seit 1940 in Chicago wohnhaft, setzt sie sich als international renommierte Künstlerin in ihren Arbeiten vor allem auch mit dem Holocaust, Genozid, Rassismus und Gewalt auseinander.
Friedhöfe, die Bestattungsritual- und Totenkultur werden in dem Buch quasi als Quelle herangezogen. Ein guter und sinnvoller Ansatz?
Ein Ansatz, der häufig für Darstellungen über jüdische Gemeinden gewählt wird. Das ist naheliegend, weil vielfach, und das ist auch in Hagen so, da die Memorial- und Sachkultur sowie auch Gebäude, wie die Synagoge in Hagen, den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg nicht überstanden haben. So reduziert sich die Überlieferung des jüdischen Wirtschaftslebens in Hagen auf einige Zeitungsannoncen, etwas Schriftverkehr zur „Arisierung“ und Museumsobjekten wie ein Kleiderbügel des Modegeschäfts Jacob Löwenstein. Auf den Friedhöfen haben sich die Grabsteine als Denkmäler und Ankerpunkte der Erinnerung an einzelne jüdische Gemeindemitglieder erhalten. Sie ermöglichen eine direkte Auseinandersetzung mit der geehrten Person und ihrem Leben.
Über diese Dissertation hinaus: Welche Bereiche des jüdischen Lebens gelten als wenig oder gar nicht erforscht? Wo sehen Die Ansätze für weitere Forschung?
Die Frage ist schwierig zu beantworten. Für Hagen fällt es mir schwer, Themen und Aspekte zu benennen, die noch eingehender beleuchtet werden könnten. Teilweise schränkt bereits die rudimentäre Quellenüberlieferung jeden neuen Forschungsansatz ein. Dabei muss die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Hagen in einem Zusammenhang gesehen werden aus meiner Sicht ist die Erforschung des Umgangs mit Migration und gesellschaftlichen Randgruppen interessant und notwendig - das betrifft vor allem im 17. bis 19. Jahrhundert auch die jüdischen Gemeinden im Raum Hagen. Kaum bekannt ist beispielsweise, dass das wilhelminische Kaiserreich eine Migrationsgesellschaft war. So wurden die meisten baulichen Zeugnisse dieser Zeit in Hagen, wie die Gedenktürme, die Hasper- und Glörtalsperre, das alte Rathaus und der Hauptbahnhof, von größtenteils italienischen Arbeitsmigranten errichtet. Vom Stadtmuseum / Stadtarchiv wollen wir die Geschichte der Sinti und Roma in Hagen untersuchen. Kaum eine andere Randgruppe wird bis heute im gesellschaftlichen und politischen Umgang durch tradierte Klischees und Diffamierungen diskriminiert. Dieses historische Thema betrifft uns auch heute und in Hagen. Auch die Verfolgung von Homosexualität vor, während und nach dem Nationalsozialismus in der Stadt ist ein Thema, dem wir uns nähern möchten. Insofern wünsche ich mir weitere Kollegen, die wie Günther Müller mithelfen, gesellschaftliche, kulturelle und politische Strömungen und Prozesse sowie Gemeinschaften und Menschen in Hagen erforschen.