Hagen. . 25 Jahre lang war Dr. Gerhard Koch Chef der Kinderklinik am AKH. Er hat tausende Kinder geheilt und leider auch viele Kinder gehen sehen müssen.

Dieser Text entsteht aus dem Gedächtnis. Das ist kein Ausdruck beruflicher Faulheit. Der Redakteur ist nicht zu müde, einen zweistündigen Audio-Mitschnitt abzuhören, das Wesentliche aus dem Unwesentlichen zu schälen und dann in Prosa zu gießen. Nein, nein. Dieser Text entsteht aus dem Gedächtnis, weil dieses Gespräch nicht aus dem Gedächtnis geht. Die wesentlichen Botschaften und die innere Haltung dieses Menschen bleiben so stark haften wie ein Brandfleck übergekochter Milch auf einer Herdplatte. Zum Abschied eines Mediziners aus dem Berufsleben, für den Kinder und ihre Gesundheit Antrieb, Verpflichtung und die stärkste Kraft auf dieser Erde sind.

Danke an das Ehepaar, das auf einer Anhöhe hinter dem Bismarckturm auf mich und Dr. Gerhard Koch auf Pferden zureitet. Weil es zu verstehen hilft, wie wertvoll Kochs Arbeit in dieser Stadt gewesen ist. Die Dame des Paares ist eine Mutter, vielleicht Ende 30. Sie schaut fast demütig. „Entschuldigen Sie, wenn wir Sie unterbrechen. Aber ich will Ihnen sagen, wie sehr wir Sie schätzen und mich dafür bedanken, dass Sie unsere Tochter geheilt haben.“

Gerhard Koch will in Zukunft mehr auf Reisen gehen.
Gerhard Koch will in Zukunft mehr auf Reisen gehen.

Gerhard Koch kramt in seinem Kopf. Seinen Augen sieht man an, wie er versucht, das Ehepaar einzuordnen. Der Vater schaltet sich ein: „Unsere Tochter hatte das RS-Virus und Sie haben nicht aufgehört nach der Ursache für ihre Krankheit zu suchen. Sie haben es geschafft. Unsere Tochter ist gesund. Alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg. Sie haben sich den Ruhestand verdient.“ Bei Koch klickt es im Kopf. Das Mädchen vor Augen. Er lacht so breit, dass man alle Zähne sieht.

Dass der Mann, der 25 Jahre lang die Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses in Hagen leitete, tausende Kinder auf die Welt geholt und tausende Kinder geheilt sowie Hunderte gerettet hat, in Rente geht, ist als Nachricht durch diese Stadt gerollt. Wer in Hagen Kinder hat, die jemals komplizierter erkrankt waren oder Hilfe brauchten, hat Kontakt zu diesem Mann und seinem Team im AKH gehabt. „Ich habe viele, viele Familien gesehen“, sagt Koch und schiebt etwas leise hinterher: „Im Guten wie im Schlechten.“

Jeder Todesfall bringt medizinische Erkenntnis

Denn wer sein Leben der Kinderheilkunde widmet, sieht auch in jenen abgründigen Teil des menschlichen Seins, in dem Gott Trilliarden Kilometer entfernt zu sein scheint. Wenn es ihn für jene Eltern, die ihr Kind sterben sehen müssen, überhaupt gibt. „Jedes Mal, wenn ein Kind gehen musste, war das zwar extrem belastend“, sagt Koch. Er bleibt stehen, deutet mit dem Zeigefinger nach vorn, kneift die Augen etwas zusammen, um den Blick zu präzisieren. „Aber jeder dieser Tode hat dazu geführt, dass ein nächstes Kind nicht sterben musste, weil er trotz aller Trauer und Schmerz medizinische Erkenntnis brachte.“ So mag, und das ganz gewiss nur medizinisch, keiner der vier, fünf Todesfälle jährlich umsonst gewesen sein.

Rasender medizinischer Fortschritt

Medizinischer Kenntnisstand, das weiß Koch, ist so vergänglich wie die Jugend, wie technische Errungenschaften, wie ein Moment. „Es kann gut sein, dass man mich in sechs, sieben Jahren nicht mehr als Ratgeber heranzieht, weil man denkt, dass der Koch von den Zusammenhängen keine Ahnung mehr hat.“ Weil medizinischer Fortschritt eine Rakete mit unendlichem Treibstoff ist, muss eine Mutter, die heute vier Kinder bekommt, nicht mehr damit rechnen, dass zwei davon sterben. Kinder mit Hirnhautentzündung können geheilt werden und ohne Schäden weiterleben. Es gibt ein gewaltiges Arsenal an Wissen über Viren und Krankheiten, dass eher die Natur es als Herausforderung sehen muss, neue Krankheiten zu erfinden.

Das Jahrhundert der psychischen Krankheiten

„Eigentlich müsste uns das glücklich stimmen, oder?“, fragt Gerhard Koch. Wir atmen etwas schwerer, der Anstieg war zu steil für eine flüssige Konversation. „Es kann uns aber nur teilweise glücklich stimmen. Denn mit dem Wechsel von 1999 auf 2000 endete das Jahrhundert der organischen Krankheiten bei Kindern. Die Medizin ist Herr darüber geworden. Aber wir befinden uns nun im Jahrhundert der psychischen Erkrankungen unserer Kinder. Die Individualisierung und der technische Fortschritt machen die Kinder psychisch krank.“

Der Mensch sei dazu gemacht, zu laufen. Zwei Kilometer zu Fuß zur Schule? Von der Evolution her sei der kindliche Körper dafür gemacht. Stattdessen werde er in einem Auto befördert. Die Bewegung fehle, dadurch die Ausgeglichenheit. Und der kindliche Stoffwechsel sehe sich, ohne die angemessene Anstrengung zu erbringen, den hochkalorischen Nahrungsmitteln dieser Zeit ausgesetzt. Computer, Smartphones, Kinder in sozialen Netzwerken. Cybermobbing, Vernachlässigung durch hochgestresste Eltern, der Verfall der Rituale. „Gibt es das regelmäßige gemeinsame Abendessen in jeder Familie dieser Stadt? Und wie viele Eltern gibt es, die in diesem auf Leistung ausgelegten Gesellschaftssystem ihre Kinder zwar über Gebühr fördern, aber nicht fordern?“, fragt Koch.

Fördern, das sind Geigenunterricht, frühmusikalische Erziehung und Englisch sprechen mit einem Dreijährigen. Fordern, das ist das freie Spiel im Wald. Im Garten. In der Natur. Den Körper kennenlernen, Gefahr und Konsequenzen.

Koch ist kein Schaumschläger

Die Zeit verklärt ja so vieles. Es kann als Außenstehender, als Zuhörer manchmal so erschreckend peinlich sein, wenn ohne jeden Zweifel verdiente Menschen sich selbst überhöhen. Koch, so legen es diese zwei Stunden auf dem Drei-Türme-Weg frei, ist kein Schaumschläger. Sein eigener Bericht über sein Leben orientiert sich in jedem Satz an der Sache, an der Kinderheilkunde. Nicht an sich selbst.

Koch hat verstanden, dass die Friedhöfe voll von Menschen sind, die sich für unersetzlich hielten. „Und wenn ich ehrlich bin, dann hat meine Reise zum Chefarzt einer Kinderklinik auch immer viel mit Zufällen zu tun gehabt.“ Nun ja, das wiederum mag angesichts der Anstrengung, die es kostet, Chefarzt zu werden, maßlos untertrieben sein. Dennoch: Als der gescheite Junge aus dem Südharz, kurz vor der DDR-Grenze als Sohn einer Arbeiterfamilie loszieht, um zu studieren, sind seine nächsten 30 Lebensjahre zwar von Fleiß, Biss und Willen geprägt. Aber auch von Begegnungen.

In Hagen das Glück gefunden

Immer wieder begegnet er Medizinern, die Stellen empfehlen. In Darmstadt langweilt er sich als Oberarzt. Zu wenig zu tun. In St. Augustin findet er die ganze Bandbreite kinderheilkundlichen Arbeitens. Und in Hagen sein Glück. „Als 1993 hier die Chefarztstelle zu vergeben war, bin ich mit meiner Frau sofort hierher gefahren. Fast 200 000 Menschen, eine große Region, und ein Schmelztiegel der Kulturen. Ich dachte, hier wird es immer Kinderheilkunde geben müssen. Hier wirst du immer gebraucht werden.“ So war es auch. Koch bekommt die Stelle, wird Hagener, baut eine Kinderklinik auf, die modernsten Standards genügt, eine Neonatologie hat, zigfach zertifiziert ist und webt ein immer enger werdendes Netz zwischen dem Krankenhaus und den niedergelassenen Kinderärzten.

Der größte Schatz dieser Stadt

Wir halten an. Unter den Jacken dampft es. Die Luft drückt kalt auf unsere Nasen. Die Augen tränen. „Sie sind doch Hagener, oder?“, fragt mich Koch. Ja, bin ich. „Ich meine, richtiger Hagener. Also von hier.“ Ja, so einer, entgegne ich. „Wissen Sie, was der größte Schatz dieser Stadt ist?“, fragt er mich.

Ich schweige.

„Ihr psychosoziales und gesellschaftliches Engagement. Die Stadt hat kein Geld, und doch findet sie immer wieder Lösungen für Weiterentwicklung. Und es sie hat starke Netzwerke von Kümmerern und Helfern. Im Bereich der Kinder, aber auch bei den Erwachsenen. Ich habe im Laufe meiner 25 Jahre in Hagen so viel Hilfe für die Kinderklinik erfahren. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, davon zu berichten.“ Ein letzter Händedruck für eine Pleite-Stadt, die man mit mehr als auskömmlicher Chefarzt-Pension besser auf eine Finca nach Ibiza verlässt? „Meine Frau und mich kriegt man hier nicht mehr weg“, sagt der 65-Jährige, „das hier ist unsere Heimat geworden.“

Der Blick auf die eigenen Kinder

Die Medizin bietet so viele Spielfelder wie ein Dutzend Fußball-Ligen. Warum die Kinderheilkunde? Warum kein Orthopäde, kein Chirurg, kein Gynäkologe? „Kinder zu heilen, ist das Größte, was passieren kann. Und nichts auf dieser Welt ist gleichzeitig stärker als die Selbstheilungskräfte von Kindern. Kinder haben diese natürliche Kraft, aus sich selbst heraus Krankheiten zu besiegen. Das fasziniert mich bis heute.“ So sehr, dass man bei den eigenen Kindern und Enkelkindern gar nicht aufhören kann, Kinderarzt zu sein? „Nein, nein. Diesen Blick habe ich nie auf meine eigenen Kinder und auf deren Kinder gelegt. Ich habe lange Zeit gar nicht bemerkt, dass mein eigener Sohn in jungen Jahren eine Sehschwäche gehabt hat und sich deshalb auch öfter gestoßen hat.“ Was, so sagt er, und verfällt eben doch in medizinische Routinen, bis zum vierten Lebensjahr ohne Brille korrigierbar sei – wenn man es denn bemerke.

Mediziner hinterlässt nachhaltiges Vermächtnis

Gerhard Kochs Berufsleben ist seit Ende Februar vorüber. Sein Nachfolger, Dr. Jan-Claudius Becker, ist schon da. Gerhard Koch ist ersetzt. Das mag die formalistische Sicht auf die Personalie Chefarzt der Kinderklinik am AKH sein. Menschlich hingegen und auf den Wert geblickt, den seine erfolgreiche Arbeit und die seines Teams für viele Familien in Hagen hatte, hat er nachhaltiges Vermächtnis hinterlassen.

Gerhard Koch schwingt sich am Parkplatz des Bismarck-Turms auf sein Fahrrad und rollt den Goldberg hinab.

Adieu, Doktor.

Einen schönen Ruhestand.