Breckerfeld. . Eine Stoffwechselerkrankung hätte Justin beinahe das Leben gekostet. Eine Spender-Leber verändert von heute auf morgen alles.
- Vor 23 Jahren wird Justin aus Breckerfeld mit einem Leberschaden geboren und wird kurz nach der Geburt sehr krank
- Justin leidet an einer seltenen Stoffwechselerkrankung, an der im deutschsprachigen Raum im Jahr 1994 nur zehn Kinder erkrankt sind.
- Eine Spender-Leber verändert sein und das Leben seiner gesamten Familie – heute ist er lebensfroh und mutig
Er mag Musik, wenn sie laut ist. Also dreht er die Anlage in seinem Zimmer auf. Er dreht an dem Knopf und singt. „Komm hol das Lasso raus...“ Justin, 23 Jahre alt, er lacht, er strahlt, er lebt. Er lebt sein eigenes Leben. Mittlerweile in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung in Gevelsberg. Aber Justin lebt dieses ausgelassene, dieses fröhliche Leben nur, weil er die Leber eines jungen Menschen in sich trägt, für den das Leben nach einem schrecklichen Unfall vorbei war. Von einer auf die andere Sekunde. Der Tod dieses Menschen ist für Justin der Start in ein neues, in sein neues Leben.
Acht Pfund, ein Wonneproppen
Das alte Leben, es beginnt für Justin vor 23 Jahren so, wie das Leben von Hundertausenden anderer Säuglinge. Acht Pfund schwer, ein richtiger Wonneproppen. Doch ab Tag zwei ist nichts mehr wie bei hunderttausend anderen. Justin verliert plötzlich Gewicht. 700 Gramm weniger als bei seiner Geburt zeigt die Waage. Er wird in die Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses verlegt. Er kommt an einen Tropf. Er wird künstlich ernährt. „Das war ein Schock. Wir haben an seinem Bett gesessen und haben seine Hand gehalten“, sagt Claudia Kuhnig, „aber er wurde immer schwächer. Er hat nicht geschrien, sich nicht bewegt.“
Am zehnten Tag fällt Justin ins Koma. Mit einem Rettungswagen wird er in die Uniklinik Münster gebracht. Nach zwei Tagen dort die bittere Diagnose: Justin leidet an einer seltenen Stoffwechselerkrankung, an der im deutschsprachigen Raum im Jahr 1994 nur zehn Kinder erkrankt sind. Der Leber fehlt ein Enzym. Das Organ kann Eiweiß nicht verarbeiten. Nimmt Justin Eiweiß zu sich, vergiftet er sich selbst. Sieben bis acht Jahre – das sei die Lebenserwartung von Justin, sagen die Ärzte. Der Tod aber ist nah. „Justin erlitt nach wenigen Tagen einen Herzstillstand, musste wiederbelebt werden“, sagt Claudia Kuhnig. „Wir haben ihn nottaufen lassen. Ich habe das erste Mal in meinem Leben alleine in einer Kirche gesessen und habe gebetet.“
Der liebe Gott – er muss dieses Gebet erhört haben. „Lange künstliche Ernährung, strenge Diät, dazu Physiotherapie“, sagt Claudi Kuhnig, „es war ein Wunder. Aber Justin hat sich erholt.“ Die Eltern können das Baby schließlich mit nach Hause, mit nach Breckerfeld nehmen. „Wir waren auf einmal eine ganz normale Familie.“
Einschränkungen bleiben
Die körperlichen und geistigen Einschränkungen, die durch den Herzstillstand hervorgerufen wurden, bleiben. Aber Justin, der kleine Kämpfer, entwickelt sich. „Wir haben vieles gemeinsam durchgestanden“, sagt Claudia Kuhnig. „Und dieser Kampf hat sich in den ersten Lebensjahren gelohnt. Justin war so lebensfroh. Ein richtiger kleiner Sonnenschein.“
Es sind Jahre mit Einschränkungen, aber es sind glückliche Jahre. Doch diese unbeschwerte Zeit, in der die Kraft des Jungen stärker als die Krankheit in seinem Körper ist, geht vorüber. „Als Justin 13 Jahre alt war, hat sich sein Gesundheitszustand extrem verschlechtert“, sagt Claudia Kuhnig, „es war immer häufiger auf den Rollstuhl angewiesen. Hatte nur selten die Kraft, um zu stehen oder zu gehen. Wenn er sich nur wenige Schritte bewegte, musste er sich erbrechen. Das Eiweiß, das für den Muskelaufbau verantwortlich ist, fehlte seinem Körper. Er war häufig krank, wurde immer anfälliger für Infektionen. Mit 15 Jahren ist er nur noch vor sich hinvegetiert. Das war nur schwer zu ertragen.“
Bei einer Untersuchung in Münster öffnet ein Arzt Claudia Kuhnig die Augen: „Es geht nicht mehr. Ohne eine neue Leber muss ihr Sohn sterben.“
Justin kommt auf eine Dringlichkeitsliste. Und muss trotzdem eineinhalb Jahre warten, bis sich ein passendes Organ findet. „Mitten in der Nacht haben wir einen Anruf bekommen“, sagt Claudia Kuhnig, „innerhalb von eineinhalb Stunden stand der Rettungswagen vor der Tür, der uns nach Hamburg gebracht hat. Um 8 Uhr waren wir in der Klinik. Kurz danach lag Justin im OP.“ Achteinhalb Stunden dauert der Eingriff.
Zweiter Geburtstag
Der 28. Februar 2012 ist Justin zweiter Geburtstag. „Nach allem, was dieses Kind durchmachen musste – jetzt hat Justin einmal in seinem Leben Glück gehabt“, sagte einer der Ärzte nach dem Eingriff. Die Eltern des 17-Jährigen, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, hatten sich ganz kurzfristig entschlossen, die Organe freizugeben. „So komisch das klingt“, sagt Claudia Kuhnig, „sein Tod hat uns letztlich ein neues Leben ermöglicht. Ich bin dankbar, dass sich die Eltern trotz ihrer Trauer dazu entschieden haben, die Organe freizugeben.“
Alle sechs Monate muss Justin zu Kontrolluntersuchungen. Sein Körper hat das fremde Organ angenommen. Die Stoffwechselerkrankung hat sich deutlich abgeschwächt. „Heute verträgt er 80 Prozent der Eiweißmenge eines Gleichaltrigen“, sagt Claudia Kuhnig-Bauer. Justin braucht keinen Rollstuhl mehr. Er läuft. Er ist fröhlich. Er nimmt Teil am ganz normalen Leben. Und er singt: „Komm hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer.“