Hagen. Es ist ein freundlicher Raum, in dem die junge Frau am Schreibtisch sitzt. Vor ihr ein Computerbildschirm und ein Telefon. Links ein Fenster mit hübscher Aussicht, durch das die Spätsommersonne scheint. Das Telefon klingelt, die Frau nimmt ab. Am anderen Ende ein verzeifeltes Mädchen.

Telefonseelsorge Hagen: Birgit Knatz, Leiterin.
Telefonseelsorge Hagen: Birgit Knatz, Leiterin. © WP

„Ich habe einfach keine Zukunft. Jeder neue Tag ist eine Qual für mich. Es wird von Tag zu Tag schlimmer, anstrengender, hoffnungsloser. Ich bin 15 Jahre alt, und ich habe festgestellt, dass mein Leben keinen Sinn hat.” 20 000 solcher Anrufe gehen jedes Jahr allein bei der ökumenischen Telefonseelsorge Hagen-Mark ein.

Telefonseelsorge Hagen: Leiter Stefan Schumacher.
Telefonseelsorge Hagen: Leiter Stefan Schumacher. © WP

Einer von 84 ehrenamtlichen und intensiv geschulten Mitarbeitern hebt dann den Hörer ab, hört zu, versucht einen Zugang zu der Person auf der anderen Seite der Leitung zu bekommen. „Den Satz 'Ich an ihrer Stelle würde jetzt. . .' wird unseren Mitarbeitern ganz schnell abgewöhnt”, sagt die Leiterin der Telefonseelsorge Hagen-Mark, Birgit Knatz. Schließlich sei niemand an der Stelle des Gegenübers. Eine andere Biografie, ein anderer Charakter, ein anderer Mensch sitze dort.

Eineinhalb Jahre dauert es, bis man sich bei der Telefonseelsorge an den Apparat setzen darf und Gespräche entgegen nimmt. Kommunikationstraining, Krisenintervention, Gesprächsführung, emotionale Entlastung; kurz: Das Zu- und Hinhören ist ein Prozess, der gelernt sein will. „Wie ein Handwerk muss auch das Mundwerk gelernt werden”, sagt Birgit Knatz mit einem Augenzwinkern. Wer die 18-monatige Schulung mit 400 Arbeitsstunden absolviert hat, bekommt ein Zertifikat.

Die Basis für ein Erfolg versprechendes Gespräch sei der Aufbau von Vertrauen. „Der Anrufer muss seine Angst, Scham oder Unsicherheit ablegen, um sich öffnen zu können”, sagt Dr. Stefan Schumacher, ebenfalls Leiter der Hagener Telefonseelsorge, „es geht nicht darum, jedes Problem zu lösen. Damit wären wir auch überfordert.”

„Wie ein Handwerk muss auch das Mundwerk gelernt werden.”

Vielmehr versuchen die Mitarbeiter der Telefonseelsorge, Wege aus der scheinbaren Aussichtslosigkeit aufzuzeigen. Als letzten Ausweg für verzweifelte Menschen sehen sich die Mitarbeiter der Telefonseelsorge aber nicht. „Wir würden uns zwar wünschen, dass manche Menschen früher bei uns anrufen”, meint Schumacher, „denn wir sind nach einer langen Leidenszeit häufig der erste Halt, den Menschen dann bekommen.”

Manche Anrufer trauern um einen Menschen, den sie durch Tod oder Trennung verloren haben, andere sorgen sich, weil sie sozial total isoliert sind, eine junge Mutter berichtete, sie sei völlig überfordert, verprügele ihre Kinder und schäme sich dafür. Wieder andere spielen sogar mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. „In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Unfälle im Straßenverkehr”, sagt Birgit Knatz am heutigen Weltsuizidtag. 12 000 Menschen nehmen sich jedes Jahr das Leben. Jeden zweiten Tag ruft bei der Telefonseelsorge Hagen-Mark ein verzweifelter Mensch aus Hagen, dem Märkischen Kreis, dem EN-Kreis oder Schwerte an, der mit solchen Gedanken spielt. „Man lernt Lebensverläufe kennen, bei denen man vorher gedacht hätte, dass so etwas überhaupt nicht möglich ist”, erzählt Birgit Knatz. Vieles belastet auch die Seelsorger, die sich regelmäßig in Gesprächsrunden austauschen, um das Gehörte zu verarbeiten.

Mittlerweile hat die Telefonseelsorge Hagen-Mark (kostenfrei und anonym unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 zu erreichen) auch die Tür zu neuen Medien aufgestoßen. Es gibt eine Email-Beratung und einen Chatraum. Informationen hierzu gibt es unter www.telefonseelsorge-hagen-mark.de .