Wehringhausen.

Es gibt keine Firma auf dieser Welt, die still stehen darf. Wer das tut, wird keinen Erfolg haben. Und wenn Firmen aufhören würden, sich neu zu erfinden, dann gäbe es keinen Fortschritt. Wir würden immer noch an einem Rädchen drehen müssen, um das nächste Foto unseres 36er-Films einzustellen. Wir könnten Musik nur dann hören, wenn sie zufällig im Radio gespielt wird. Wir könnten nicht nachschauen, wie warm das Wasser am Strand von Ibiza nächste Woche sein wird.

Man kann folglich sagen, dass ohne Zukunftsdenken, gepaart mit Profitgier, Fortschritt ausbleibt. Wir stehen mitten im Wald. Die Schuhe sind nass. Die Rücken auch. Die Schwüle verteilt feucht-warme Ohrfeigen. Jürgen Hentges bleibt plötzlich stehen, um zu erklären, dass es etwas auf dieser Welt gibt, dass die gerade beschriebenen Gesetzmäßigkeiten aus den Angeln hebt. Etwas, dass stetig und stetig und stetig erfolgreich bleibt, weil seine Macher es nicht verändern, sondern bewahren. Und das mit dem gleichen Herzblut wie Pioniere, die das Bestehende gandenlos neu erfinden, um neue Wege zu gehen. „Die Loßröcke“, sagt Jürgen Hentges. Er schweigt kurz. Dann sagt er es noch mal deutlicher: „Die Loßröcke.“

An diesem Wochenende findet eines der größten und beständigsten Volksfeste der Stadt statt. Das Sommerfest der Boeler Loßröcke, dem Brauchtumsverein in einem der bevölkerungsstärksten Stadtteile Hagens. Es ist eine Konstante im Terminkalender Tausender Boeler, aber auch eine Konstante in sich. „Es gibt immer etwas Neues, immer eine kleine Veränderung, aber im Großen und Ganzen folgt es immer der gleichen Idee“, sagt Jürgen Hentges.

Der Mann hat seit 1974 keines dieser Sommerfeste verpasst. Er hat seine Urlaubsplanungen immer drumherum gestrickt. Ach was, er hat sein ganzes Leben um die Loßröcke herum gebaut, weil sie ihm einst eines der schönsten und wichtigsten Gefühle gegeben haben, das ein Mensch seiner Ansicht nach neben der Liebe spüren kann: das Gefühl, gebraucht zu werden.

Warum Jürgen Hentges? Warum gehen wir mit ihm spazieren? Für seine Verdienste für das Boeler Brauchtum seit fast 50 Jahren? Nein, das wäre höchst erwähnenswert, doch wir müssten ihn in eine Reihe mit vielen anderen Menschen in Hagen stellen, die für ihren Stadtteil, ihre Traditionen und die Menschen aus ihrem Quartier die Ärmel hochkrempeln. Aber Jürgen Hentges ist ein optimaler Repräsentant all dieser Macher, Bewahrer, Kümmerer und Traditionalisten. „Viel zu hoch gegriffen“, erwidert der 73-Jährige. Bei den Loßröcken haben sie das auf Nachfrage anders gesehen. „Jemand, der darüber was erzählen kann und der sich seit Jahrzehnten mit Herz einbringt? Ja, dann müsst ihr mit Jürgen Hentges sprechen.“

Und Jürgen Hentges und seine Mitstreiter der Loßröcke sind Sinnbild dafür, dass die Motoren einer Stadt in ihren Stadtteilen laufen. Menschen, die das Fähnchen ihres Quartiers hoch halten und über das erzeugte Zusammengehörigkeitsgefühl ein Klima schaffen, in dem es trotz aller Widrigkeiten, der finanziellen Schieflage der Gesamtstadt, den daraus resultierenden Zwängen und Stimmungen, möglich bleibt, dass Tausende Mitbürger immer aus ehrlichem Herzen sagen können: „Ich bin hier, weil das meine Heimat ist. Ich bleibe hier, weil mir wichtig ist, was hier passiert. In meinem Boele, meinem Haspe, meinem Hohenlimburg, meinem Emst.“

„Geh’ in diesen Verein“, sagte einer

Jürgen Hentges war gar kein Boeler, bevor er Boeler wurde. Er war ein Eilper Junge. Einer aus dem Süden. Allein die Tatsache, dass er und seine Frau Ute einst eine zweite Tochter erwarteten und eine größere Wohnung brauchten, verschlug die beiden nach Boele. Wer solche Umzüge schon gemacht hat, weiß, wie fremd man sich selbst fühlen kann, obwohl man doch immer noch in Hagen ist. „Geh’ in diesen Verein“, hat ein Arbeitskollege bei der Post mir damals gesagt. Dieser Verein, das waren die Loßröcke.

Sie sind ein offener Verein, wie Jürgen Hentges sagt. Aber man müsse das Herz auch am rechten Fleck haben und sich bewähren. „Deshalb galt auch für mich ein Jahr Probezeit. Das war gut, ich habe mich eingebracht und engagiert. Am Ende des Jahres gehörte ich dazu. Bis heute.“

Der Verein war für Hentges damals, was er auch heute noch sein kann. In einer Welt, die sich im Turbo-Gang befindet. Wo Beziehungen mehr und mehr virtuell entstehen und wieder zerfallen. Wo Zusammenhalt es schwer hat, zu entstehen, weil die Anonymität der menschlichen Nähe immer mehr den Rang abzulaufen scheint. „Bei den Loßröcken passiert das Gegenteil.“

Der Nachwuchs rückt nach

Denn der Zusammenhalt in den jeweiligen Boeler Generationen übertrage sich und stecke an. Die Loßröcke hätten auf diese Weise eine junge Basis aufgebaut, die nicht nur als Karteileiche firmiert, sondern Verantwortung tragen. Das sah man in den Karnevalssessionen zuletzt an der Spitze. 2013/2014 waren ­Patrick Engelbert und Isabell Preiß das Oberloßrockpaar, 2014/2015 dann Marcel Schaefer und Lorena Schlink. Junge Menschen unter 30, die in die erste Reihe rücken, aber auch an der Basis mitgestalten, mitarbeiten, mitmachen. „Man kann versuchen, das zu beschreiben oder zu ergründen. In Boele würden wir aber einfach sagen: das ist Tradition.“

Und so knallen die menschliche Nähe und die persönliche Begegnung der Anonymität plötzlich eins vor den Latz. Vielleicht haben Heimat und ihr Brauchtum ja gerade dort eine immer größer werdende Entfaltungskraft, wo alles um sie herum immer schneller und fremder zu werden droht.

An diesem Wochenende ist wieder Sommerfest auf dem Loßrock-Gelände in der Malmkestraße. Jürgen Hentges wird an einem Stand Lose verkaufen. „Ich bin stolz an diesen Tagen“, sagt er. „Stolz darauf, dass das Brauchtum und die Heimat diesen großen Wert für viele Boeler haben. Für die, die im Stadtteil leben und für die, die weggezogen sind und nur für dieses Fest nach Hause kommen.“ Tage wie dieser, wenn es Ochsenbraten gibt, Live-Musik, Attraktionen für die Kinder und Tausende Gespräche sind es, was die Loßröcke antreibt: Zusammenhalt.

Zusammenhalt als Aufgabe

Hentges und mich ein etwas. Wir leben beide in Boele, sind aber keine gebürtigen Boeler. Als wir in nach unserem Umzug im Garten Polterabend feiern wollten, hatten wir die Idee, einen Bierwagen, ein Zelt und einen Toilettenwagen aufzustellen. Doch uns fehlte die Logistik.

Irgendwie sprach sich das in der Nachbarschaft herum. Tage später standen einige Menschen vor der Tür. Der eine hatte einen Trecker, der andere ein Zelt. Einer kannte einen Toilettenwagen-Betreiber. Wir konnten feiern. „Das passiert, weil der Zusammenhalt in einem Stadtteil gepflegt wird. Und deshalb wird unser Wirken noch in Jahrzehnten wichtig sein“, sagt Jürgen Hentges. „Das ist Tradition.“

Tradition, die mit dem heutigen Sommerfest-Beginn weitergepflegt wird. Jürgen Hentges ist wieder dabei. Wie selbstverständlich.