Wehringhausen. Jetzt spricht das Mädchen, das am Hauptbahnhof in Hagen Opfer von Gaffern geworden ist: Tylin (10) wurde nach einem Unfall einfach gefilmt.

  • Tylin (10) ist das Unfallopfer vom Hauptbahnhof.
  • Sie berichtet, wie Gaffer sie hilflos am Boden liegend filmten.
  • „Manche haben laut gelacht“

Ein zehnjähriges Mädchen sollte sich solche Gedanken eigentlich nicht machen müssen. Es sollte nicht enttäuscht sein von Erwachsenen, von dem Verhalten von Menschen, die 20 oder 30 Jahre älter sind. Tylin ist es aber. Als sie vor zwölf Tagen vor dem Hauptbahnhof von einem Golf angefahren wird und bewusstlos auf der Straße liegen bleibt, da hatten Menschen, die ihre Moral, ihr Ehrgefühl und ihre Menschlichkeit scheinbar an der letzten Straßenecke abgelegt haben, nichts Besseres zu tun, als sie mit ihren Smartphones zu filmen. „Manche haben laut gelacht“, erinnert sich Tylin. Wer einen solchen Satz hört, schämt sich in Grund und Boden für die sensationsgierigen Gaffer. Denn das kleine Mädchen erzählt ohne jede Anklage. Trotzdem ist sie sehr getroffen.

Dass Tylin lebt, ist an sich eine wunderbare Nachricht. Dass sie eine höchst erwachsene Art an den Tag legt, mit dem Erlebten vor dem Bahnhof umzugehen, ist bemerkenswert. Die Zehnjährige aus Bulgarien, die mit ihrer Schwester und ohne weitere Familie in Hagen gelandet ist („Über alles Weitere möchte ich nicht sprechen“, sagt sie.) hat ein aufgewecktes Wesen. Sie spricht vier Sprachen. Am liebsten aber erzählt sie von der Schule.

"Einige haben das Tuch weggerissen"

Unbekannter spendet 20 Euro

Tylin hat Besuch bekommen. Und zwar von Polizei-Pressesprecher Tino Schäfer. Er hat ihr einen Brief gebracht, in dem ein Bürger, der vom Unfall und den negativen Erfahrungen Tylins gelesen hatte, ihr sehr herzliche Zeilen schrieb. Die Hagener Polizei hatte die Gaffer auf ihrer Facebook-Seite hart kritisiert („Schämt euch, ihr Gaffer!“).

Der Schreiber des Briefes dankte der Polizei dafür und bat darum, 20 Euro an das verletzte Mädchen weiterzuleiten, damit es sich eine kleine Freude davon machen kann. Schäfer überbrachte ihr den Brief und einen Polizei-Teddybären.

Dahin war sie auf dem Weg, als ihr der schlimme Unfall am Graf-von-Galen-Ring passierte. „Ich hatte einen Döner gegessen, dann wollte ich über die Straße zum Bus gehen.“ Sie sei nicht bei Rot über die Straße gelaufen, wie es erzählt werde. Vielmehr habe ein Fahrzeug, das ist ihre letzte Erinnerung, einfach nicht gestoppt. Es war der Golf, dessen Fahrer sie, als sie auf der Straße liegend aus der Bewusstlosigkeit erwacht, verzweifelt und von Schuldgefühlen gepackt, bei sich stehen sieht.

Rundherum aber formiert sich eine gierige Meute. „Die Rettungsmänner haben ein Tuch um mich herum gespannt, damit mich keiner sehen konnte. Aber einige haben ihre Handy-Kameras einfach oben drüber gehalten oder das Tuch weggerissen.“ Ein Erwachsener mag das beängstigend, beklemmend und furchteinflößend finden – wie mögen solche Szenen auf ein zehnjähriges Mädchen wirken?

Gaffer führen sich wie Paparazzi auf

Gaffertum und Sensationsgier auf einem neuen Niveau. Für ein paar Klicks auf der eigenen Facebook-Seite sind manche offensichtlich bereit, sich wie Paparazzi aufzuführen. Nur, dass die Gaffer weder Reporter noch im Krieg sind. Sondern genau genommen nichts anders tun, als die Arbeit von Rettungskräften zu stören und Unfallopfer ohne Respekt zu behandeln.

Tylin benutzt kein Facebook, sie schaut auch nicht ins Internet. „Meine Schwester sagt, dass das besser für mich wäre“. Ein Pflaster an ihrer linken Schläfe und Schmerzen im linken Bein erinnern das Mädchen heute noch an den Zusammenprall mit dem Auto vor dem Bahnhof. Demnächst, bei einem Termin in einer Bochumer Klinik, werden die Ärzte einen letzten Blick auf ihre schweren Prellungen werfen. „Alles wird wieder gut“, sagt Tylin. Und fast scheint es, als wolle sie den Reporter beruhigen.

Immer schlimmere Ausmaße

Auch interessant

Für Helfer und Rettungskräfte aber wird der Fall der kleinen Tylin unvergessen bleiben. Die hemmungslosen Gaffer-Szenen, die sich vor dem Bahnhof abgespielt hatten, haben erfahrenen Polizisten, Feuerwehrmännern und der Crew des herbeigerufenen Rettungshubschraubers schwer zugesetzt. Alle Beteiligten erwähnten kurz nach dem Unfall im Gespräch mit unserer Zeitung, dass die Gafferei schlimme Ausmaße annehme, die verheerende Wirkung auf die Arbeit von Lebensrettern habe.

Was bleibt, sind eine gute Nachricht und ein Appell. Tylin geht es wieder gut. Und jeder, der beim nächsten Unfall glaubt, sein Smartphone zücken zu müssen, möge sich an die kleine Hagenerin erinnern.