Vorhalle. . Nach den Querelen der Vergangenheit hat sich der Wind in der Vorhaller Kreuzkirchengemeinde gedreht.
Die letzte Frage zwingt Brigitte Höpker ein langes Durchatmen ab. Sie blickt erst fragend zurück, dann gehen ihre Mundwinkel nach oben. „Dazwischen“, sagt sie, „in den Zwischenräumen.“ Mit Zwischenräumen meint Brigitte Höpker die Zeit, die ihr zwischen allen Aufgaben und Verpflichtungen in der Gemeinde bleibt. Sie ist Presbyterin in der Vorhaller Kreuzkirchengemeinde und es geht um die Zeit, in der sie selbst zu ihrem Glauben finden kann, in der sie Ruhe für den Kontakt mit Gott findet.
Das war die letzte Frage, die wir Höpker bei unserem Besuch im Gemeindehaus gestellt hatten: Wann bleibt noch Zeit für den persönlichen Glauben, wenn jeder Tag, jede Woche, jedes Jahr die nächste große Herausforderung ist, die Gemeinde lebendig oder noch mehr: am Leben zu halten?
Hochzeit in der 80er Jahren
Mit ihren Sorgen und Nöten sind die Protestanten in Vorhalle nicht allein auf der Landkarte deutscher Kirchengemeinden. Die Gemeindegliederzahlen rauschen in den Keller, es gibt immer weniger Menschen, die sich in der Gemeinschaft engagieren und das Interesse an der Institution Kirche nimmt stetig ab.
Für die Kreuzkirchengemeinde heißt das in schmerzenden Zahlen: Sie hat noch knapp unter 2500 Gemeindeglieder. In den 80er Jahren waren es mal über 6000. Wir sind nach Vorhalle gekommen, weil hier gerade etwas geschieht. Unter dem Kirchturm herrscht Aufbruchstimmung. Und das war dringend nötig. Auch wenn es weh tut: Wenn wir über Aufbruch schreiben, müssen wir auch darüber sprechen, was in der Gemeinde in den vergangenen Jahren gründlich schief gelaufen ist. Um es mal in der Boxer-Sprache zu sagen: Die Gemeinde lag am Boden, sie war angezählt. Und das Schlimme war, dass sie sich die entscheidenden Tiefschläge immer selbst verpasste. Von innen heraus. Presbyterium und Pfarrer Hans-Peter Naumann, Vorgänger der jetzigen Pfarrerin Frauke Hayungs, gerieten bei fast allen Themen aneinander. Verschiedenene Gruppen der Gemeinde lagen sich ständig in den Haaren.
Mischung aus Freude und einer Zuversicht
Anfang 2012 schmiss der Geistliche das Handtuch. Es war der Tiefpunkt für die Gemeinde mit der wunderbaren alten Kreuzkirche an der Weststraße. Brigitte Höpker und Pfarrerin Frauke Hayungs sitzen im Gemeindehaus an der Ostpreußenstraße und lachen. Mit einer Mischung aus Freude und einer Zuversicht, die man ausstrahlt, wenn man sich seine eigene kleine Vision von der Gemeinde von morgen geschaffen hat.
Bleiben wir mal in der Boxersprache: Nach dem ersten Niederschlag und dem Anzählen ist die Gemeinde wieder aufgestanden. Was vor allem mit der Personalie Hayungs zu tun hat. „Mit ihr sind der Schwung, die Verlässlichkeit und der Antrieb zurück in der Gemeinde“, sagt Höpker. Alle lassen sich anstecken von der einnehmenden Art der sympathischen Pfarrerin, haben neue Ideen, bringen sich wieder konstruktiv ein.
Trendwende eingeleitet
Frauke Hayungs hat eine Trendwende eingeleitet. Sie und das Presbyterium haben wieder Zuversicht zurück in die Gemeinde gebracht. Zuversicht, dass der evangelische Standort Vorhalle stark ist und eine Zukunft hat. Mit Gesprächen, mit kleinen Festen, bei denen die Gemeindeglieder sich begegnen, mit Worten in den Predigten. Höpker erzählt mit Stolz über das Gemeindefest, zu dem auch viele muslimische Besucher kamen, weil im angrenzenden evangelischen Kindergarten auch muslimische Kinder betreut werden. So kamen Menschen unterschiedlicher Religionen miteinander in Kontakt. Das ist wichtig in Vorhalle, einem Stadtteil, in dem der Anteil ausländischer Bürger hoch ist.
„Der Kindergarten ist unser Pfund“, sagt Pfarrerin Hayungs. Er ist ein Stück lebendige Gemeinde, der die Kleinsten im Stadtteil nicht nur gut betreut, sondern auch mit der Kirche in Kontakt bringt. Es gibt auch einen Kindergarten-Gottesdienst mit Eltern-Café. Und im Herbst werden Erwachsene sich in einem Glaubenskurs Kinderfragen nähern. Hat Gott einen Bart? Gibt es im Himmel was zu essen? Fragen, die ab dem 29. September immer dienstags von 19 bis 21 Uhr im Gemeindehaus besprochen werden. Von Menschen, die längst keine Kinder mehr sind. Ein Ansatz, der neuen Spaß an der Auseinandersetzung mit dem Glauben bringen soll.
Vor zwei, drei Jahren wurde es dunkel über der Kreuzkirche in Vorhalle. Jetzt erinnert die Stimmung eher an einen Sonnenaufgang. Bei den Wahlen des Presbyteriums im Frühjahr, Hayungs ist da frohen Mutes, werden endlich wieder alle Sitze gefüllt sein. Zwei sind zur Zeit nicht besetzt. Ein Relikt vergangener Tage, in der die Gemeinde es nicht geschafft hatte, neue Gesichter für die Arbeit im höchsten Gremium zu gewinnen. „Wir arbeiten an einem Generationswechsel“, sagt Höpker.
Geld für Investitionen
Die viele Jahre defizitäre Haushaltskasse der Gemeinde ist zwar noch nicht gerade zum Geldspeicher mutiert. Aber durch kluge Verkäufe von Immobilien ist ein bisschen Geld da. Das Gemeindehaus wurde zum Beispiel verkauft, aber bei Investor Tobias Wabbel sofort wieder zurückgemietet – und zwar für viele Jahre. Und es wurde modernisiert. Das alte Pfarrhaus wurde an die Diakonie verkauft.
Auch wenn die Gemeindegliederzahl eine volle Pfarrstelle nicht mehr rechtfertigt und ab 2018 wohl auf 75 Prozent reduziert wird, sagt Pfarrerin Hayungs diesen Satz: „Gemeinde in Vorhalle ist etwas Starkes und Lebendiges. Glaube ist hier etwas Spürbares.“ Das fühlt sie. In Gesprächen, Briefen, Begegnungen. Und sie hat noch viel vor. Was sich bisher schon bewegt hat – das soll in Vorhalle erst der Anfang sein.