Hagen. . Angst, Unkenntnis, Ressentiments. In der Bevölkerung herrschte nach Kriegsende Angst vor Übergriffen durch Zwangsarbeiter. Historiker Dr. Ralf Blank im Interview.

Bei Unternehmen und in der Bevölkerung existierte nach Kriegsende eine gewisse Angst vor Übergriffen durch Zwangsarbeiter. Über deren Bedeutung und über ihr Verhältnis zur Hagener Bevölkerung sprach unsere Zeitung mit dem Historiker Dr. Ralf Blank, Leiter des Fachdienstes Museen, Wissenschaft, Archive.

Welche Zwangsarbeiter gab es in Hagen?

Ralf Blank: Grundsätzlich müssen wir unterscheiden zwischen angeworbenen ausländischen Arbeitskräften und Zwangsarbeitern. Doch in den letzten Kriegsjahren waren die Unterschiede fließend. So wurden Niederländer die Lebensmittelkarten entzogen, um sie auf diesem Weg für einen Arbeitseinsatz in Deutschland gefügig zu machen. 1944 kam es auch vor, dass in den Niederlanden bei Razzien alle Personen aufgegriffen und ins Reichsgebiet deportiert wurden. Dieses Vorgehen war in Osteuropa seit 1942 längst üblich gewesen. Während des Rückzugs der Wehrmacht ab 1943 wurden die arbeitsfähigen Einwohner ganzer ukrainischer und weißrussischer Dörfer abtransportiert.

Fröhlicher Tanz: Zwangsarbeiter in Hagen bei einer offenbar durch die deutsche Arbeiterfront inszenierten Veranstaltung im Jahr 1944
Fröhlicher Tanz: Zwangsarbeiter in Hagen bei einer offenbar durch die deutsche Arbeiterfront inszenierten Veranstaltung im Jahr 1944 © WP

Wie viele Zwangsarbeiter lebten in Hagen?

Die im Stadtarchiv Hagen überlieferten Listen mit den biografischen Angaben von mehr als 40 000 in Hagen eingesetzten Arbeitskräften spiegeln auch die militärische Situation an der Ostfront ab 1942 wider. Nach dem Warschauer Aufstand im August 1944 gelangten zahlreiche Menschen nach Hagen, die ebenfalls deportiert wurden, nachdem vorher Massenexekutionen der deutschen Sicherheitspolizei und SS ganze Familien zerstört hatten. Eine weitere Gruppe waren Kriegsgefangene, die ebenfalls sehr unterschiedlich behandelt und versorgt wurden. 1944 standen italienische Militärinternierte, eine Wortschöpfung der Wehrmacht, um sie außerhalb der Genfer Konvention zu stellen, und sowjetische Kriegsgefangene auf der unteren Stufe der hierarchisch und ideologisch gegliederten Skala des NS-Regimes.

Welche Bedeutung hatten Zwangsarbeiter?

Im Kriegsverlauf wuchs die Bedeutung, da die seit 1942 immer höheren rüstungswirtschaftlichen Anforderungen selbst bei der Beschäftigung von deutschen Arbeitskräften kaum zu leisten gewesen waren. Um „geeignete“ ausländische Arbeitskräfte zu erhalten, haben einige Unternehmen, in Hagen besonders die Accumulatoren Fabrik AG, in Eigeninitiative in den von den deutschen Truppen besetzten europäischen Ländern Arbeitskräfte ausgesucht, um sie über die Rüstungsbehörden rekrutieren zu lassen.

Diese Fotoserie zeigt Zwangsarbeiter aus der Ukraine. Sie wurden durch die Gestapo erkennungsdienstlich erfasst und deshalb abgelichtet. Ihre Namen sind nicht bekannt.
Diese Fotoserie zeigt Zwangsarbeiter aus der Ukraine. Sie wurden durch die Gestapo erkennungsdienstlich erfasst und deshalb abgelichtet. Ihre Namen sind nicht bekannt. © WP

Wo und wie waren sie untergebracht?

Untergebracht waren die ausländischen Arbeitskräfte in der Regel in Barackenlagern sowie auch in freigezogenen Hallen und Gaststätten. Es gab große „Gemeinschaftslager“, wie am Kuhlerkamp, wo bis zu 1000 Menschen untergebracht waren, um von dort täglich zur Arbeitsstätte transportiert zu werden. Auch die Stadt Hagen unterhielt eigene Lager für ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene.

Wie wurden die Menschen behandelt?

Unterschiedlich. Während für „Ostarbeiter“, ein Sammelbegriff für Arbeitskräfte aus verschiedenen osteuropäischen Ländern, verschärfte Überwachungs- und Lebensbedingungen herrschten, waren die „Westarbeiter“ zunächst etwas freier. In der Kriegsendphase fielen sie jedoch alle unter dem durch die Gestapo kontrollierten Überwachungs- und Verfolgungsapparat. Seit Sommer 1943 unterhielt die Hagener Gestapo-Dienststelle im Stadtgebiet und in ihrem Bezirk, der Hagen, den heutigen Ennepe-Ruhr-Kreis und Märkischen Kreis umfasste, mehrere Straflager für ausländische Arbeitskräfte, die sicherlich zu Recht als „KZ der Gestapo“ bezeichnet werden. Das zentrale Gestapo-Gefängnis für die Region befand sich im Polizeigefängnis in der Hagener Prentzelstraße, dort, wo heute das Kunstquartier steht. Dort und in den Straflagern waren Hinrichtungen in den letzten Kriegswochen beinahe an der Tagesordnung.

© WP

Was geschah mit den Zwangsarbeitern nach der Besetzung der Stadt?

Die US-Truppen wurden im April 1945 bejubelt und als Befreier begrüßt, verständlicherweise, wenn man bedenkt, wie die Lebensumstände und die Situation für Ausländer und Kriegsgefangene waren. Allerdings stellten die zahlreichen ausländischen Arbeitskräfte und Kriegsgefangenen – im Raum Hagen waren es 1945 mehr als 50 000 Personen – die US-Truppen und die ab Anfang Juni 1945 in Hagen mit der Militärverwaltung beauftragten Briten vor große Probleme. Wenn es möglich war, wurden sie in ihren früheren Barackenlagern konzentriert, teilweise auch überwacht und kontrolliert, um sie schnellstmöglich in ihre Herkunftsländer zu transportieren. Jedenfalls feierten US-Truppen, befreite ost- und westeuropäische Arbeitskräfte und freigekommene Kriegsgefangene am Tag der Kapitulation, dem 8. Mai 1945, in Vorhalle ein großes Fest, bei dem viel Alkohol geflossen ist, wie eine zeitgenössische Regimentszeitung der Amerikaner herausstellte.

Gab es Plünderungen durch Zwangsarbeiter?

Überfälle durch einzelne und in Banden organisierte Ausländer stellten in den ersten Monaten der alliierten Besatzung ein großes Problem dar. Allerdings nicht nur für die deutsche Bevölkerung, sondern auch für die amerikanischen und britischen Besatzungstruppen sowie auch für die befreiten Ausländer und Kriegsgefangenen. Bei der Rezeption in den Nachkriegsjahren spielt dabei natürlich das Klischee vom plündernden und vergewaltigenden Russen eine gewichtige Rolle. Dieses Vorurteil, das von Vorkommnissen beim Vormarsch der sowjetischen Truppen 1944/45 genährt und durch die NS-Propaganda weidlich ausgeschlachtet und verschärft wurde, hielt sich hartnäckig im Bewusstsein der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Es handelte sich jedoch, wie es in Hagen auch belegt ist, um Ausnahmeerscheinungen einzelner krimineller Personen, von denen sich die übrigen Ausländer und Kriegsgefangenen offen distanzierten.

Wie reagierten die Besatzungsmächte?

Die britische Militärpolizei ging mit Waffengewalt gegen diesen organisierten Personenkreis vor, schließlich ebbten die Überfälle, die mehrere Todesopfer forderten, ab. Doch das generelle Bild von Plünderungen und Vergewaltigungen, die tatsächlich zeitweise häufig vorgekommen sind, hat sich bis heute in der Erinnerung weiter Bevölkerungskreise festgesetzt. Es war eine negative Begleiterscheinung der alliierten Besetzung im Frühjahr 1945, um so auch die vom NS-Regime geschürte „Russenangst“ mental zu bestätigen, gewissermaßen ein Stück der ideologisierten „Volksgemeinschaft“, das sich über den Krieg gerettet hat.

© WP

Wie wurde die Rückfahrt der Zwangsarbeiter in ihre Herkunftsländer organisiert?

Dieser Prozess begann bereits unmittelbar nach der Besetzung Hagens und der Region. Einerseits versuchten zahlreiche frühere Zwangsarbeiter eigenständig ihre Herkunftsländer zu erreichen, die Mehrzahl der „Westarbeiter“ wählten diesen Weg.

Wie verhielt es sich bei den Zwangsarbeitern aus Osteuropa?

Ein Großteil der früheren Zwangsarbeiter aus den damals von sowjetischen Truppen besetzten Ländern Osteuropas und Polen sahen ihrer Rückkehr mit gemischten Gefühlen entgegen. Der Zweite Weltkrieg und die Expansion des Stalinismus hatte sie im doppelten Sinne entwurzelt und zu Opfern gemacht. Sowjetische Kriegsgefangene mussten Repressionen befürchten, auch zwangsweise zum Arbeitseinsatz deportierte Menschen aus der damaligen Sowjetunion und ihrem Einflussgebiet teilten diese Perspektive. Unbegründet waren diese Befürchtungen nicht, wie zahllose Schicksale nach 1945 zeigten. Im Stadtarchiv Hagen sind einige Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ verwahrt, die beinahe verzweifelt sich an die Stadtverwaltung und britische Militär-Regierung wandten, um doch in Hagen bleiben zu können. Von westalliierter Seite wurde nicht viel Rücksicht genommen, da es mit der Sowjetunion vertragliche Vereinbarungen gab, so dass bis 1947 alle noch in Hagen lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter in die sowjetische Einflusssphäre transportiert wurden. Auch für die königstreuen Serben bedeutete die zwangsweise Rückkehr in das von Kommunisten beherrschte Herkunftsland mehrheitlich den Anfang eines langen Leidenswegs, an dessen Ende oft der Tod stand.

Wie waren Kontakte und Verhältnis der Hagener Bevölkerung zu den Zwangsarbeitern nach dem Krieg?

Das Verhältnis zwischen den ehemaligen Zwangsarbeitern – in den ersten Nachkriegsjahren waren es nahezu ausschließlich Menschen aus osteuropäischen Ländern – war alles andere als freundlich. Es war angespannt. Das lag weniger an den früheren Zwangsarbeitern, die sich in Hagen sogar bemühten, zwischen den Deutschen und ihnen mit Einladungen zu gemeinsamen Feiern und Ausstellungen ein gutes Verhältnis aufzubauen.

79956102.jpg
© WP

Worin lagen denn die Ursachen für die Spannungen?

Die Anspannung resultiert einerseits aus ideologischen Klischees und Vorurteilen, die sich teilweise schon vor dem Nationalsozialismus gefestigt hatten, auf der anderen Seite aber auch aus den durch die britische Militär-Regierung angeordneten Zwangsmaßnahmen, wie die Räumung von Vorhalle und Kabel zur Unterbringung von hauptsächlich Polen. Diese Maßnahmen belasteten das Verhältnis zwischen der Hagener Bevölkerung und den in der Stadt verbliebenen Ausländern enorm und bestimmt teilweise bis heute auch viele Ressentiments, die sich auch nach dem Abtransport der osteuropäischen Arbeitskräfte in ihre Herkunftsländer ein Teil des kollektiven Erinnerungshorizonts wurde. Rückblickend saßen die früheren Zwangsarbeiter und die Deutschen im gleichen Boot, da sie Opfer des Krieges waren und unter den Folgen der nationalsozialistischen Politik leiden mussten.