Hagen. Dr. Volker Westerbarkey ist neuer Präsident von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. Neutralität ist für den Hagener Mediziner oberstes Gebot.

Neuer Präsident von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland ist Dr. Volker Westerbarkey. Der Allgemeinmediziner stammt aus Hagen. Im Interview spricht der 43-Jährige über die Arbeit der Hilfsorganisation. Sorge bereitet ihm, die fehlende Trennung von militärischer und humanitärer Hilfe.

Nicht jeder Mediziner kommt auf die Idee, sich bei Ärzte ohne Grenzen zu engagieren. Warum Sie?

Dr. Volker Westerbarkey: Ich hatte meine erste Stelle als Allgemeinmediziner in einer HIV-Schwerpunktpraxis in Berlin angetreten, und habe dann 2003 einen Vortrag bei Ärzte ohne Grenzen über HIV/Aids-Projekte gehört.

Das hat Sie fasziniert?

Westerbarkey: Ja. Es hat mir gezeigt, welche Hilfe weltweit vonnöten ist. Mit unserer medizinischen Versorgung schöpfen die Menschen, denen niemand helfen kann oder will, neuen Lebensmut. Das imponiert mir bis heute. Wir können direkt helfen. Das ist ein gutes Gefühl. Sechs Monate später bin ich damals übrigens für Ärzte ohne Grenzen nach Myanmar gegangen, um in einem HIV- und Tuberkulose-Projekt zu arbeiten. Ein Jahr lang.

Ohne Vorbehalte, ohne Ängste?

Westerbarkey: Ehrlich? Je näher die Abreise gerückt ist, desto stärker haben damals meine Bedenken zugenommen. Zum einen hatte ich die Sorge, ob ich der Aufgabe gewachsen bin. Ich sollte eine Oberarzt-Funktion übernehmen und ein neues Behandlungszentrum aufbauen. Zum anderen Angst, selbst krank zu werden.

Haben Sie unter den Umständen vor Ort gelitten?

Westerbarkey: Nein, nicht wirklich. Auch wenn die Umstände, wie die Behandlung im Freien, hierzulande undenkbar sind, ist es vor Ort eben so, wie es ist. Da hilft kein lamentieren, da rückt Deutschland in weite Ferne.

Versuchen die Konfliktparteien, Ärzte ohne Grenzen für ihre Belange einzuspannen?

Westerbarkey: Das versuchen wir, wenn es eben geht, zu verhindern. Wir sind neutral. Wir beurteilen nicht, warum jemand in Not gerät. Wir wollen den Leuten helfen, die uns brauchen.

Und wenn dem nicht so ist?

Westerbarkey: Kritisch für mich war es, als ich 2007/2008 in Simbabwe war. Präsident Robert Mugabe hat es nicht gerne gesehen, dass wir Flüchtlinge in der südafrikanischen Botschaft in der Hauptstadt Harare behandelt haben, die wahrscheinlich Oppositionelle waren. Die humanitäre Hilfe wird, heute stärker denn je, nicht mehr als neutral und unparteiisch wahrgenommen.

Wie erklären Sie sich das?

Westerbarkey: Die Neutralität gerät immer dann in Gefahr, wenn, wie in Afghanistan zum Beispiel, die Bundeswehr auch humanitäre Hilfe leistet. Wenn die Trennung von militärischer und humanitärer Hilfe nicht mehr gegeben ist, bedeutet dies für unsere Mitarbeiter eine große Gefahr. Warum? Weil wir mit den Soldaten gleichgesetzt werden.

Werden die Mitarbeiter auf mögliche Anschläge oder Geiselnahmen, wie es die Bundeswehr macht, vorbereitet?

Westerbarkey: Nein. Wir gehen auch in keine Trainingslager, um das Verhalten im Fall einer Geiselnahme zu üben. Aber natürlich sprechen wir mit unseren Mitarbeitern über mögliche Sicherheitsrisiken und erläutern unsere konsequenten Sicherheitsregeln. Zudem bauen wir auf den Schutz durch unsere gute und neutrale Arbeit.

In Zentralafrika sind in einem Krankenhaus Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen erschossen worden. Auch im Flüchtlingslager Dadaab im Nordosten Kenias und im Südsudan werden Mitarbeiter zur Zielscheibe. Wie reagieren Sie auf diese Bedrohung?

Westerbarkey: Wenn das Leben der Mitarbeiter in Gefahr sind, ziehen wir uns zurück. So haben wir es in Syrien und auch in Somalia getan. Um anderen Menschen helfen zu können, müssen wir auch unsere Mitarbeiter schützen.

Sie geben in diesen Fällen die notleidenden Menschen auf?

Westerbarkey: So schwer es fällt, manchmal ja. Für Somalia gibt es allerdings neue Überlegungen. Wir können die Bevölkerung nicht dauerhaft im Stich lassen. Wir sind im Land quasi der Ersatz für ein nicht funktionierendes staatliches Gesundheitssystem.

Wie erleben Sie die Menschen in den Krisengebieten?

Westerbarkey: Ganz gleich, wo ich war. Am Anfang ist oft Skepsis vorhanden. Wo kommen die her? Was wollen die? Das Blatt wendet sich, wenn Sie mitbekommen, wie wirksam und unparteilich unsere Hilfe ist.

Haben Sie ein Beispiel im Kopf?

Westerbarkey: Aus Simbabwe. Hier haben Angehörige, wie es oft ist, einen Schwerkranken mit einer Schubkarre zu uns gebracht. Er war von Tuberkulose verzehrt, von Durchfällen geplagt und HIV-infiziert. Mit dem Beginn der Behandlung ging es ihm bald besser. Heute ist er Patientenberater in der Poliklinik. Das sind Erfolgserlebnisse, die allen gut tun, Einheimischen und Helfern.

Kehren Sie verändert von Einsätzen im Ausland zurück?

Westerbarkey: Manchmal fühle ich mich wie benommen. Vieles wirkt befremdlich. Ich wundere mich, über was sich die Leute ärgern und den Kopf zerbrechen. Wie schwer es hierzulande manchmal sein kann, aus vielen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Gleichwohl genieße ich es, wenn ich sehe, wie gut es uns geht, wie gut vieles im Land funktioniert

Gibt es Momente, in denen Sie sich gefragt haben, warum mache ich das eigentlich?

Westerbarkey: Natürlich gibt es die. Wir machen Nothilfe, und wir bieten keine dauerhafte Lösung an. Das ist belastend.

Wie beim Flüchtlingsstrom?

Westerbarkey: Ja. Er wird nicht abreißen. Hier wollen wir den Flüchtlingen, deren Leben aus welchen Gründen auch immer bedroht ist, helfen. Wir haben drei Boote im Mittelmeer im Einsatz. Wir unterscheiden nicht, ob sie vor Krieg oder Hunger flüchten. Wir helfen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit.