Hagen. . „Perfectly unperfect“ist deutschlandweit einmalig. Tänzer des Hagener Balletts haben mit behinderten Tänzern eine Choreographie erarbeitet.

Fünf Frauen und fünf Männer sitzen sich an einem schmalen Lichtband auf der nackten Bühne gegenüber, es könnte ein ideeller Bachlauf sein. Wie neugeschaffene Menschen erkunden sie vorsichtig ihre Gliedmaßen, Arme, Beine, Füße und vor allem die Hände. Wie weit kann man sie im Gelenk drehen und knicken? Wie weit lassen sich die Finger spreizen? Wozu sind Finger überhaupt gut? Kann man damit Luft und Wasser greifen? Das sind die Fragen, die sich zum Beginn der Choreographie „Perfectly unperfect“ stellen, mit der das Ballett Hagen und die Kölner Din A 13-Tanzcompany jetzt im Theater Hagen das Festival „Farben des Tanzes“ eröffnet haben.

Bis zum 7. Juni sind dabei internationale Choreographien zu sehen, die sich von typischen Ballettproduktionen unterscheiden. Denn hier tanzen behinderte und nichtbehinderte Profis zusammen. Das Publikum feiert die Premiere mit langem Beifall im Stehen.

Zack, zack, der Nächste bitte

Tänzer müssen perfekt sein. Wer körperlich versagt, wird schneller ausgemustert, als er „Schmerzen“ buchstabieren kann. Und Tänzer müssen kreativ sein. Diesen Hochleistungsanforderungen setzt Hagens Ballettchef Ricardo Fernando das Konzept des „mixed abled“ Tanzes entgegen, der in seiner brasilianischen Heimat längst etabliert, hierzulande jedoch kaum bekannt ist. Erstmals in Deutschland überhaupt bietet mit Hagen ein Theater ein solches Festival an.

Eine Audition, wie das Vortanzen international genannt wird. Die Jury verlangt absonderliche Verrenkungen von den Tänzerinnen. Die Beine hinter den Kopf heben, rasend schnell im Kreis gehen, dazwischen persönlichste Fragen beantworten, Zack, Zack, der Nächste bitte. Die Situation ist grausam, übergriffig.

Stephen Odongo kommt im Rollstuhl hinzu, der muss weg, schneller, Tempo. Dann legt der Tänzer aus Kenia mit den verkümmerten Beinen einen sensationellen Spagat hin und kämpft sich an den Stahlträgern des Bühnenbildes unermüdlich und vergeblich in die Vertikale. Perfektion als unerreichbare Illusion. Das ist ein atemberaubendes und sehr verstörendes Solo.

Die Kölner Choreographin Gerda König verweigert in ihrer Arbeit mit den Hagener Tänzern und denen ihrer Din A 13-Company jedes Schubladendenken. „Mixed abled“ funktioniert nicht so, dass „behinderte“ Tänzer „mitmachen“ dürfen. Im Gegenteil: Wer Unterschiede sucht, wird zunehmend verwirrt.

Der zerbrochene Spiegel

Denn natürlich ist es unglaublich fantastisch, welche Drehungen und Sprünge José Rafael Conde aus Venezuela mit einem Bein und zwei Krücken schafft. Aber es ist eben fantastisch, weil es künstlerisch voller Tiefe und Spannung ist – und nicht als Freakshow. Traditionelle Denkmuster passen plötzlich nicht mehr. „Tänzer mit körperlichen Besonderheiten produzieren Bewegungen, die ein anderer Tänzer, und wenn er noch so gut ausgebildet ist, niemals produzieren kann“, schildert Gerda König bei der anschließenden Diskussion mit dem Publikum, warum sie die Bezeichnungen „behindert“ und „nichtbehindert“ ablehnt.

Das Publikum erlebt virtuose und berührende Szenen, darunter aufregende, fast schon aggressive und sehr männliche Sprung- und Hebefiguren. Vieles ist aus der Improvisation entwickelt, alle Tänzer lassen sich rückhaltlos auf das Stück ein. Am Ende interpretiert Brendon Feeney in einem ebenso intensiven wie intimen Solo das Gleichnis vom zerbrochenen Spiegel, den man nicht wieder flicken kann. Perfekt und nicht perfekt sind eben nicht nur äußere Etiketten, sondern auch innere. Und die Grenzen sind immer hausgemacht.

Infos zum weiteren Programm bis zum 7. Juni: www.theaterhagen.de