Hagen. Über seine Instinkte, seine Erfahrungen und seine Begegnungen mit Menschen spricht Reinhold Messner in einem Gespräch mit WP-Reporter Hubertus Heuel.

Wie riecht Heimat? Wie viel Freiraum braucht ein Kind? Wie überlebenswichtig sind Angst, Egoismus und Instinkt? In einem Multivisionsvortrag am Freitag, 23. Januar, um 20 Uhr in der Stadthalle skizziert Reinhold Messner (70) seinen Weg vom Südtiroler Bergbub zu einem der größten Abenteurer unserer Zeit.

Was werden Sie Ihren Zuhörern in Hagen erzählen?

Reinhold Messner: Mir geht es nicht darum, über eine bestimmte Expedition zu berichten, sondern meine Erkenntnisse über die menschliche Natur darzulegen. Es geht um die Frage, wie der Mensch tickt. Ich behaupte, dass wir in den zivilisierten Gesellschaften nach Regeln leben, die uns von oben gegeben werden – von einer Religion zum Beispiel, von einem Diktator, von wem oder was auch immer. In der Wildnis dagegen diktiert die Natur unser Verhalten, dort sind wir keiner Regierung unterstellt. In der Todeszone am Mount Everest gibt es kein Richtig oder Falsch, dort geht es ums nackte Überleben.

Wie ticken wir Menschen denn im Innersten?

Messner: Wir sind Egoisten. Wenn wir das nicht wären, gäbe es die Menschheit längst nicht mehr. Aber im Clan, in einer kleinen Gruppe sind wir ebenso altruistisch wie egoistisch. In einer Seilschaft am Berg werde ich alles tun, um meinen Partner am Leben zu halten, nicht zuletzt, weil das auch für mein Überleben wichtig ist.

Glauben Sie nicht an Gott?

Messner: Dann müsste ich ja an einen von Menschen gemachten Gott glauben. Denn die Religionen sind von Menschen gemacht. Ich schließe eine ordnende Kraft absolut nicht aus, aber wir können sie nicht finden. Auch die Naturwissenschaftler, die Astrophysiker werden sie nicht finden. Es mag das Jenseitige geben, aber davon weiß ich nichts. Ich will auch nichts davon wissen. Ich glaube nicht an einen Gott, schließe aber nichts aus.

Ticket-Vorverkauf im Leserladen und an der Stadthalle

Für den vielseitigen Multivisionsvortrag von Reinhold Messner am Freitag, 23. Januar, um 20 Uhr in der Stadthalle sind noch Karten erhältlich.

Tickets zum Preis zwischen 24,90 und 38,90 Euro gibt es in unserem Leserladen in der Hohenzollern­straße sowie an der Stadthalle unter 3450.

Die Antarktis ist eine der herrlichsten Gegenden

Sie haben viele Orte der Erde bereist. Welcher ist der schönste für Sie?

Messner: Ich komme gerade aus der Antarktis, das ist eine der herrlichsten Gegenden, die ich je gesehen habe. Wenn man eine Kolonie von 500 .000 Pinguinen watscheln und rutschen sieht – das ist einfach unglaublich. Kein Haus, kein Acker, kein Baum – die Antarktis ist eine archaische, unberührte Landschaft.

Und was ist mit den Dolomiten?

Messner: Ja, meine Dolomiten. (macht längere Pause). Das sind die schönsten Berge der Welt.

Inwiefern haben Sie die Berge geprägt? Wären Sie auch woanders der geworden, der Sie sind?

Messner: Ich hatte das Glück, zwischen meinem 5. und 15. Lebensjahr in diese Bergwelt hineinzuwachsen. So haben sich meine Instinkte schon ganz früh entwickeln können. Andere Bergsteiger können mich vielleicht in sportlicher Hinsicht überholen, aber sie besitzen nie meine Instinkte. Ich habe gelernt, die Natur zu riechen, zu greifen, zu schmecken. Ich war kein besserer Kletterer als andere Bergsteiger, aber ich konnte schlechtes Wetter riechen. Manchmal haben mich ältere Partner schräg angeguckt, wenn ich darauf drängte, eine Wand zu verlassen, weil ein Unwetter nahte. Und dann kam das Unwetter. Dadurch ist mein Selbstwertgefühl natürlich gewachsen. Meine Instinkte haben mich überleben lassen.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie anderen Menschen grundsätzlich misstrauen. Wie kommt das?

Messner: Das ist eine harte Aussage, das weiß ich. Aber selbst ernannte Gutmenschen sind mit Vorsicht zu genießen, ich habe da meine Erfahrungen gemacht. Der Mensch ist nicht hilfreich, sondern leider auch ein ungutes Wesen. Je größer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger gestaltet sich das Zusammenleben. Deshalb brauchen wir ja auch Gesetze. Je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Freiräume werden wir aufgeben müssen. Ich sehe das durchaus ein.

Aber wie lebt man mit ständigem Misstrauen?

Messner: Sehen Sie, ich bin auf über 100 Expeditionen gegangen, und es hat nie Streit mit meinen Begleitern gegeben. Der kam erst anschließend, wenn andere Personen versucht haben mitzureden. Ich mag keine Manager. Ich meine die Manager von Sportlern oder Abenteurern. Die kann und will ich nicht sehen. Denen geht es ausschließlich ums Geld und um die PR, ausschließlich um den Schein und nicht um das Sein. Aber in einer steilen Wand, in einer gefährlichen Situation gibt es keinen Schein, dort fallen allen Masken. Ich habe nie einen PR-Manager gehabt.

Sie haben Ihr Abenteurer-Dasein aufgegeben. Vermissen Sie die Gefahr, die Herausforderung nicht?

Messner: Ich habe meinen Frieden mit mir geschlossen. Die Herausforderung, der ich mich in den vergangenen 15 Jahren gestellt habe, war der Aufbau meiner Museums-Welten in Südtirol. An diese Aufgabe bin ich nach dem gleichen Muster herangegangen wie früher an meine Expeditionen. Ich habe mich vollkommen mit dem Ziel identifiziert, habe mir Partner gesucht und die finanziellen Mittel erarbeitet. Auf diese Weise habe ich auch meine großen Berge bestiegen.

"Immer ruhigen Fußes" 

Sie setzen immer um, was Sie sich vorgenommen haben. . .

Messner: Jeder Mensch kann alles, was er will, aber ein vernünftiger Mensch will nur, was er kann. Die Leute meinen, ich sei ein Hasardeur, ein mutiger Mann. Aber das stimmt nicht. Ich bin vorsichtig, durchaus auch ängstlich. Ich gehe stets Schritt für Schritt vor. Mein Motto lautet nicht: Berg Heil, sondern: Kalibé. Das sagen die Tibeter, wenn man Abschied nimmt. Es bedeutet: Immer ruhigen Fußes.

Und Sie vermissen Ihr früheres Leben wirklich nicht?

Messner: Ich gehe immer noch klettern, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Aber auf den Mount Everest würde ich es nicht mehr schaffen, jedenfalls nicht ohne Sauerstoffmaske, und mit Maske wäre es mir peinlich. Im Sommer, wenn die Museen schließen, suche ich mir eine neue Aufgabe. Dann mache ich einen goldenen Schritt. So nenne ich es, aus einem reinen Luftschloss eine Tatsache zu schaffen.

Wie beurteilen Sie die Rekordjagden der heutigen Bergsteiger-Generation? Sind das die Geister, die Sie selbst einst gerufen haben?

Messner: Ich finde diese neue Form der Bewegung, diese Schnelligkeit, mit der die Gipfel erklommen werden, völlig okay. Das wäre in den siebziger Jahren nicht möglich gewesen. Ein Alpinist wie Ueli Steck, der die Eiger Nordwand in zwei Stunden und 47 Minuten durchstiegen hat, verdient meinen ganzen Respekt. Ansonsten ist das Bergsteigen ein Sport wie jeder andere geworden, er wird in Hallen ausgetragen und dient dem Tourismus.

Mit dem traditionellen Bergsteigen hat das freilich nichts mehr zu tun.

War es die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis, die Sie zu Ihren Expeditionen getrieben hat?

Messner: Es war die Sehnsucht, hinter den nächsten Horizont zu schauen. Denn ich bin ein Horizontsüchtiger. Ich bin immer noch neugierig, will wissen, was noch möglich ist. Und Sehnsucht ist ja auch eine Sucht. Nur wenn sich die Sehnsucht einfach auflöst, weil das Einverständnis mit dem begrenzten Leben, dem Nichts am Ende da ist, erst dann ist die Gelassenheit perfekt. Ich versuche täglich, mich dem zu nähern.