Gelsenkirchen. Fehlgeburten treffen viele Frauen –trotzdem wird kaum darüber gesprochen. Eine Gelsenkirchenerin erzählt, wie fünf ihrer Kinder im Bauch starben.
Neunmal in ihrem Leben ist Hannah Fischer* schwanger gewesen. Vier gesunde Kinder hat sie zur Welt gebracht. Viermal hat sie eine Fehlgeburt vor der zwölften Woche erlitten. Ein Baby musste sie tot gebären. Die 43-jährige teilt das Schicksal vieler Frauen, deren Kinder im Bauch sterben und die kaum über ihren Verlust sprechen können. Mediziner gehen davon aus, dass etwa jede dritte bis fünfte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endet.
Trotzdem gelte es immer noch als Tabuthema, wenn eine Frau ihr Kind verliert, sagen Beatrix Steinrötter und Kirsten Kremer von der Schwangerschaftsberatung des Sozialdienstes katholischer Frauen und Männer (SKFM) Gelsenkirchen. Die beiden helfen Frauen bei Problemen und Konflikten während der Schwangerschaft. „Manchmal passiert es, dass eine Frau zu uns kommt und wir nur zufällig im Mutterpass sehen, dass sie schon eine Fehlgeburt hatte“, berichtet Steinrötter.
„Viele empfinden ein Gefühl der völligen Leere“
Dabei sei das Erlebnis für die werdenden Mütter hochbelastend. „Viele empfinden ein Gefühl der völligen Leere“, so Steinrötter. Auch später verfolge der Verlust die Frauen, ergänzt Kremer: „Aus Angst vor einer weiteren Fehlgeburt können sie sich manchmal gar nicht emotional auf das Kind einlassen, wenn sie erneut schwanger sind.“
Fischer ist 27, als sie zum ersten Mal schwanger wird. In der zwölften Woche verliert sie ihr Baby. „Das macht dich kaputt“, sagt sie heute. „Ich habe mich die ganze Zeit nur gefragt: Was habe ich falsch gemacht?“ Gar nichts, beruhigt sie ihr Gynäkologe damals.
Fehlgeburten
passierten einfach. Doch die Angst bleibt, als Fischer zwei Monate nach der Ausschabung erneut schwanger wird.
Fünfte Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt
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„Ich habe während der ganzen Schwangerschaft fast nur auf dem Rücken gelegen, weil ich so große Panik hatte, das Kind wieder zu verlieren“, erinnert sie sich. Doch dieses Mal geht alles gut – und auch die Male danach. Drei gesunde Kinder bringt sie zur Welt. Die Familie fühlt sich aber noch nicht komplett. „Ich komme selbst aus einer Großfamilie und wollte immer vier Kinder. Zwei Jungs und zwei Mädchen“, erzählt Fischer.
Als sie zum fünften Mal schwanger wird, verliert sie das Kind erneut. Diesmal ist die
Schwangerschaft
so weit fortgeschritten, dass eine Ausschabung nicht mehr möglich ist. Sie muss ihr Baby tot gebären. Wieder plagen sie massive Schuldgefühle: „Ich habe immer gedacht: Da habe ich meine Tochter hochgehoben und dort habe ich eine Kiste Wasser getragen – bestimmt lag es daran.“ Noch dreimal erleidet sie danach Fehlgeburten, alle zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft.
Häufig geben sich Frauen selbst die Schuld für ihre Fehlgeburt
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Dass Frauen sich selbst Vorwürfe machen, erleben die Schwangerenberaterinnen sehr häufig. „Sie denken, sie hätten sich zu sehr angestrengt, zu viel Stress gehabt, sich falsch ernährt. Lauter Dinge, die medizinisch nachweislich nicht so sind. Aber sie suchen eben nach Antworten“, weiß Steinrötter. Um die Trauer zu bewältigen, gebe es kein Schema F. Manchen könne es zum Beispiel helfen, einen Brief an das ungeborene Kind zu schreiben. Anderen tue es gut, an einem besonderen Ort eine Gedenkstätte zu errichten.
Fischer leidet schwer unter ihren Fehlgeburten. Besonders zu schaffen macht ihr die Tatsache, dass ihr Umfeld kein Verständnis für ihre Trauer zu haben scheint: „Viele haben gesagt: ‘Was willst du denn, du hast doch drei gesunde Kinder, komm darüber hinweg’. Ich habe dann gar nicht mehr viel darüber gesprochen.“ Gewünscht hätte sie sich, dass jemand ihr Trost spendet, ihr erlaubt, den Verlust langsam zu verarbeiten. Als sie wegen Verkrampfungen zu ihrem Hausarzt geht, diagnostiziert er eine
Depression
.
Beraterin: Wichtig ist es, den Verlust auch als solchen anzuerkennen
Die Beraterinnen bestätigen, dass das Umfeld nicht selten unsensibel mit dem Thema Fehlgeburten umgehe. Vor allem, wenn sie früh in der Schwangerschaft passieren. „Es kommt vor, dass den Frauen gesagt wird: ‘Das ist doch nur ein Zellhaufen’“, erklärt Steinrötter. „Für die werdende Mutter ist es aber ein Leben, das anfängt zu wachsen. Sobald eine Frau weiß, dass sie schwanger ist, baut sie eine Verbindung auf.“
Häufig schwiegen Freunde und Bekannte das Thema aus Unsicherheit und Angst, etwas Falsches zu sagen, auch ganz tot. Dabei sei es essenziell wichtig, die Trauer anzuerkennen: „Stirbt ein Elternteil, dann gibt es meist viel Anteilnahme. Das ungeborene Baby hat ja aber noch niemand gesehen, deswegen nehmen die Leute den Verlust gar nicht wahr“, kritisiert Kremer.
Mit 40 Jahren noch einmal Mutter geworden
Die Schwangerschaftsberatung des SKFM
Die Mitarbeiter der SKFM-Schwangerschaftsberatung helfen bei Problemen während der Schwangerschaft und nach der Geburt bis zum dritten Lebensjahr des Kindes.
Unter anderem beraten sie im Falle eines Schwangerschaftskonfliktes, zu den Themen Familienplanung und Existenzsicherung oder nach Totgeburt, Fehlgeburt und Schwangerschaftsabbruch .
Der SKFM hat zwei Standorte in Gelsenkirchen. Die Ansprechpartner im Michaelshaus (Hochstraße 47 in Buer) sind unter 0209 16587743 oder per Mail an sekretariat-buer@skfm-ge.de zu erreichen. Kontakt zu den Zuständigen in der Altstadt (Kirchstraße 51) kann man unter 0209 923300 oder per Mail an sekretariat@skfm-ge.de aufnehmen.
Mit 40 Jahren wird Fischer wieder schwanger. Diesmal mag sie sich gar nicht erst vorstellen, dass das Kind überleben wird. „Einmal spürte ich ein komisches Gefühl im Bauch“, erzählt sie. „Es war genauso wie damals, als ich die
Totgeburt
hatte. Ich war mir sicher: Das Kind ist weg.“ Doch das Kind war nicht weg. Knapp sechs Monate später bringt Fischer einen gesunden Jungen zur Welt. Vier Kinder hat sie heute. Zwei Jungs und zwei Mädchen.
*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt. Dieser Text erschien erstmals am 16.11.2020.